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Gedichte, Lyrik, Poesie

Erlebte Gedichte
162 Bücher



Otto Julius Bierbaum
Erlebte Gedichte . 2. Auflage 1903



Nach Bildern von Hans Thoma

I.
Sonnenuntergang.

    Aus dämmergrauer Wolke fällt stechendhellblutiges Roth herab, zischend ins graue, lockende Spiegelbild der Wolken im Wasser. Es zuckt und zittert, flimmert und flackt über das dunkle Grau und verscheidet bebend im molligen Schattengewebe. Buschige Bäume runden sich wich zum wolkigen Grau hinauf.
    Leiser Athemzug der Nacht.
    Aus allen Winkeln geistert im Husch tagschlafendes Fabel-Gesindel her. Ein lüsterner Faun schreckt eine Badende auf. Die läuft mit fliegenden Haaren, fliegenden Brüsten davon, vom flatternden Laken kümmerlich eingehüllt. Wie ihr das Herzchen hämmert vor Schreck, vor Schreck! Der bocksbeinige, geile Tölpel stützt sich mit plump triumphirendem Grinsen auf seine haarigen Schenkel. Ueber seine hartbraune und über des Mädchens rosazarte Haut läuft wie tropfendes, flüssiges Gold das gleissende, hellblutige Roth der untergehenden Sonne.


II.
Landschaft mit Ritter.

    Im Thale unten die blaue Tiefe, grau am Himmel jagende Wolken; langsam reitet, die Lanze im Arm, auf braunem Rosse ein schwarzer Ritter; rothe Ebereschentrauben leuchten aus dunklem Grün heraus wie offene Wunden...


III.
Idylle.

    In rosafarbenem Kleide, den Korb mit Blumen im Schooss, sitzt und träumt, wachend, im blumigen Gras die kleine, niedliche Schäferin, blickt hinaus in die webende Ferne, weit, weit, weit. Mildes, junges Glück, frauliche Huld lacht aus den braunen, sehnsuchtfeuchten Augen.

    In allen Prächten junggesunder Nacktheit liegt ihr zur Seite der braune Knabe im Schlaf. Ueber sein frisches Antlitz geht leicht wie Hauch ein spitzbübisch Lächeln seliger Erinnerung. Was im Wachen sie denkt, schaut er im Traum...
    Ein tiefer, blauer Himmel strahlt freundlich herein über die Spitze des Berges auf das heimliche Naheglück der Beiden. Leicht wispern die Zweige der Büsche und Bäume, und die Blumen im Grase leuchten wie lachend.


IV.
Flötender Faun.

    In Stahl gehüllt, auf weissem Ross, reitet ein Ritter durch dämmernden Wald. Von der verscheidenden Sonne träuft goldig mattes Licht durch die ruhenden Blätter.
    Sinnenversunken reitet der Ritter, es tönt ihm im Herzen klingende Klage, flötende Freude, schwellend, quellend, leise im Hauch.
    Was er im Herzen klingen hört: in die Abendluft, in den Schatten der Bäume, seinen ruhenden Hirschen bläst es der junge Faun auf dem Rohre.
    Klage des Herzens, Stimme des Schilfrohrs, mattes Verglühen der goldenen Sonne, webender Dämmerzauber des Waldes, Rascheln, Rauschen: es verklingt in die schwarze Nacht; - in schwarze Nacht reitet der träumende Ritter.


V.
Parkaussicht vom Fenster.

    Am Fensterbrett ein weisheitsträchtiges Buch. Leichtsinnige Blumensträusse rechts und links lachen es aus. Denn, der es lesen soll, weitet den Blick über unendliche, blühende Schönheit, bettet das saftige Wiesengrün, schwankendes Buschwerk, blauenden Himmel, bettet das Bild der schönen Freiheit lieber, lieber in sein Herz, als die protzige, buchstabenklotzige Weisheit.


  Otto Julius Bierbaum . 1865 - 1910






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