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Carl Busse
Gedichte
. 2. veränderte Auflage (vermutlich) 1894/1895
Vision
Ich hab' kein Auge zugethan
Die ganze Nacht, die ganze Nacht,
Mir hat ein irrer Fieberwahn
Ein wunderbares Bild gebracht:
Der Nebel wogte kreuz und quer,
Da kam ein Glanz, das Dunkel wich,
Und in das Schweigen rings umher
Sprach eine Stimme: Kennst du mich?
Und vor mir stand ein großer Mann
Und fragt, ob ich sein Antlitz kenn,
Dein Antlitz, Fremder? Sieh mich an!
Barmherz'ger Gott, wer bist du denn?
Welch Sternbild nennst du Vaterland?
Denn hier auf Erden liegt es nicht,
Und doch - du warst mir einst bekannt,
Du hast mein eignes Angesicht!
Du bist ich selbst, du spürst mein Leid,
Es hebt sich in mir mehr und mehr,
Einst war ich du - doch das liegt weit
Und ist wohl ein Jahrtausend her.
So sprich ein Wort! - Die Stimme sprach,
Sie sprach mit meiner Stimme Ton:
Du weißt es nicht, denk' nicht erst nach,
Wohl sind es tausend Jahre schon.
Doch wohnt der andre fort und fort,
Der du einst warst, in deiner Brust,
Und leitet dich mit leisem Wort,
Verborgen dir und unbewußt.
Nur manchmal, daß er sich empor
Aus deiner Seele Tiefen ringt,
Wenn still die Mitternacht den Flor
Ums denkensmüde Haupt dir schlingt.
Dann streift dich scheu ein Hauch von mir,
Dann wirst du manchmal es gewahr,
Daß einst ein andres Ich von dir
Wohl wandernd schon im Leben war;
Daß nur nach dem, was es erlebt,
Sich richten wird dein neuer Pfad,
Daß alles, was sich jetzt erhebt,
Nur Früchte sind der ersten Saat.
Ein einzig Wesen ich und du,
Vereinigt stets und doch getrennt,
So gehn wir neuen Bahnen zu,
Die keines Menschen Sprache nennt ...
Mein Haupt war schwer, mein Haupt war heiß,
Das Dunkel kam, der Glanz verblich,
Und in das Schweigen sprach nur leis
Die Stimme noch: Nun kennst du mich.
Carl
Busse . 1872 - 1918
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