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Richard Dehmel
Aber
die Liebe! . 1. Auflage 1893
Die drei Schwestern
Eine Geschichte mit
Zuhörern.
"Ja - also - die Geschichte, die ich heut erzählen
will", fing der kleine Amtmann bedächtig an, "müßte
sich
eigentlich so ein richtiger Geschichtenschreiber vornehmen,
wenn's was Orndtliches werden sollte; und habe sie sowieso
nur stückweise selber mitangesehen, das Meiste von Andern
gehört, und da werd' ich wol den Karren nur mühsam vorwärts
schieben können. Aber Das sag' ich Ihnen -"
"Na, Sie haben gewiß wieder ein besondres Schrot im
Lauf", knurrte der Förster. "Drücken Sie man los!"
Der Buchhändler des Städtchens aber stieß seinen Freund
in die Seite, machte ein schlaues Gesicht und sagte überlegen:
"Willst wol Spannung erregen, Furchenrath? Kunstkniffe,
Kunstkniffe! Kennt man, zieht nicht! Und wenn du noch
soviel dazudichtest."
"Diesmal ist das Dichten überflüssig", verteidigte sich
der Amtmann. "Trotzdem die Geschichte einfach genug ist",
fügte er nach einer Weile ernst hinzu. "Also -"
"Ein'n Augenblick! Erst mal einschenken!" Der Wirt
des Gasthauses raffte sich aus seinem Armstuhl auf und
füllte die Gläser von Frischem. Dann schloß er die Thür
des kleinen Hinterzimmers und schob sich wieder an den
Stammtisch. Der Amtmann hatte sich in das alte, hohe
Sopha zurückgelehnt; da saß er in sich versunken, wie eine
Grille im Sandloch. Es war ganz still in der Stube; man
hörte die Flamme am Dochte der verräucherten Hängelampe
nagen. Die dreie merkten, daß in dem hagern Männchen
heftige Erinnerungen brannten, und seine Stimmung teilte
sich ihnen mit.
"Also" - er richtete sich halb auf und strich über sein
spärliches Haar - "ja! sehr einfach." Seine fadenscheinige
Stimme zerriß fast. "Das Mädchen" - er fuhr sich nochmals
über den Schädel, dann rückte er sich ganz zurecht.
"Ja! Als ich sie das erste Mal zu sehen krigte, war mir,
als hätt ich sie schon lange gekannt. Und später wurde
mir auch klar, woher das kam; denn ihr Thun und Gang
und Wesen war, wie man es in den alten Märchen liest.
Ich selbst war dazumal noch so ein rechter grüner
Grashüpfer, etwa zwei Jahre älter als sie, eben erst
mündig geworden, und sollte grade anfangen, das
Gut meines Vaters zu bewirtschaften, nachdem ich
mich genugsam draußen umgethan und mein Militärjahr
abgedient hatte. Inzwischen war sie von dem Alten
eingestellt worden.
Es wußte niemand so recht, von wannen sie stammte;
unsre Leute aber sagten immer, sie sei vom "leewen Godd"
gekommen.
Und das war so gekommen. Eines Tages hatte sie
bei uns angeklopft und einen Dienst begehrt; und mein Vater,
der sonst schwerlich etwas doppelt sagte, besonders zu uns
Kindern, hat mir zweimal ausführlich erzählt, wie sie
ihn so rührend und zugleich doch so gewißlich angesehen,
daß er's ihr nicht abschlagen konnte, trotzdem er fast schon
überflüssig viel Hände in Lohn zu haben meinte. Am andern
Tage hatte dann aus einem katholischen Nachbardorf der
Pfarrer ihre Habseligkeiten geschickt; und ab und zu erkundigte
er sich, ob sie brav und anstellig wäre. Und so wurde denn
zuerst gar Manches unter den Leuten geredet, wenn auch nie,
wie sonst gewöhnlich, spitz und hämisch, sondern immer fein
behutsam und ins Fromme deutsam, bis man sie zuletzt das
Herrgottskäferchen nannte; denn zufällig hieß sie auch Marie.
Der Alte aber ließ sich über keinen von ihren Umständen aus;
und man fragte ihn nicht leicht, wenn er nicht von selber sprach.
Und bald spürte er auch, daß es Menschen gibt, die
niemals überflüssig sind. Und weil sie sich so wacker in
Haus und Stall und Scheune umthat und Alles unter ihren
Händen in gleichsam sonntaglicher Sauberkeit gedieh, so machte
er sie schon nach einem Jahre zur Obermagd, und es war
ihr auch diesmal keine von den andern Dirnen gram darum
gewesen. Sie waren ihr alle zu Willen, noch eh sie zu
befehlen brauchte; so sehr wirkte auf diese einfachen Seelen
die sanfte Gelassenheit ihrer Mienen und die stille Bestimmtheit
ihres Treibens. Wie sie überhaupt nicht reich an Worten
schien. Und doch war nichts Verstecktes in ihr und Nichts, was etwa
Andern die Worte benahm. In ihren Augen konnte man
ihre Gedanken spielen sehen wie die Fische in einem klaren
Teiche; und wem sie so mit ihrer aufmerksamen Freundlichkeit
zu Munde hörte, der wurde noch Einmal so wortfroh wie
sonst und meinte, wenn er von ihr ging, von ihren Lippen
vieles Gute erlauscht zu haben. Wenn's aber an sie trat,
daß sie etwas sagen mußte, durfte man's getrost auf
die Goldwage legen, und was sie that, kam aus beiden
Armen und stand auf beiden Beinen".
Der Buchhändler hatte schon zweimal gehustet und
stark mit den Augen gezwinkert. Jetzt mochte ihm das
Loben aber doch zu bunt geworden sein, und er platzte
heraus: "Na, du warst wol schön verschossen!" Und der
Förster schmunzelte, daß sich ihm die Bartspitzen um die
Mundwinkel sträubten. Der Wirt indessen liebkoste gemächlich
seine Ohren, gleich Einem, dem schon sehr viel Menschliches
das Trommelfell erschüttert hat.
Da merkte der Amtmann, daß er mehr verraten hatte,
als er wollte. Aber als ein Mann, der seine Rechnung mit
sich fertig hat und mit Ruhe vom Leben sprechen kann,
erwiderte er gemessen: "Ja, meine Verehrten, ich habe nach
Dieser Keine mehr leiden mögen."
Nun wurden auch die Andern wieder ernst, und der
Buchhändler schaute fast ehrfürchtig auf die grauen Haare
seines Freundes, der aus Liebe einsam geblieben war, der
so verschlossenen Gemütes schien und doch so gern erzählte,
und dem zum ersten Male jetzt der Schlüssel seines Innern
aus den Fingern glitt.
"Ja, also" - begann er aufs Neue - "ja: ich hatte
damals schon manche Schürzenschleife aufgebunden. Denn
die Worte sprangen mir seit jeher von den Lippen wie reife
Erbsen aus der Hülse, und das haben die Dinger ja gern.
Nur dieser vermochte ich nichts Schönes zu sagen, so sehr
mir der Sinn danach stand. Das ging aber Allen so; denn
sie hatte eine Schwäche."
"Siehst du, Büchermade", wandte er sich an den Freund,
"jetzt kommen auch ihre Fehler an die Reihe - oder besser:
ihr Fehl. Ja: Eins fehlte ihr, um ganz fürs Leben geschickt
zu sein: die rechte Unbefangenheit. Man durfte ihr nicht von
ihr selber sprechen; dann wurde sie fast ängstlich, wie eine
Schnecke, der man an die Fühler gegriffen hat. Und war
dies doch einmal geschehen, so konnte man die Furcht davor
noch lange auf ihrem Gesichte lesen, sobald man wieder in
ihre Nähe trat. Daher sich jeder bei uns hütete, ihr stilles
Wirken zu stören.
So lagen Entschlossenheit und Schüchternheit, Besonnenheit
und Zagheit in ihrer Seele neben einander, wie Fäden, die
nicht recht zu einem festen Band verflochten waren. Mich
aber rührte das vielleicht besonders - und den Vater wol
auch, weil meine tote Mutter von ähnlicher Art gewesen
war, obschon gesprächiger und weniger zart von Wuchs.
Ja! - Aber Einer lebte doch auf unserm Hof herum,
vor dem sie nicht beiseite wich, was immer für Reden
er an sie brachte; der Heinrich Wendel. Das kam nun
freilich sehr allmählich erst in Fluß; denn dem krochen für
gewöhnlich die Worte aus dem Munde wie die Regenwürmer
aus der Erde, und daher hieß man ihn mitunter wol den
stummen Heinz oder auch - in unsrer Mundart da oben
- den Träumling. Er mochte ein gut Jahr älter sein als
ich, und wir kannten uns von jung auf. Wir hatten in
der Hauptstadt zusammen auf der hohen Schule gesessen,
wie sie bei uns das Gymnasium nennen. Allerdings blos
in den unteren Klassen, da er in der Tertia hängen blieb
und dann abging, um daheim die Raupen unter seinem
Flachskopf möglichst unbehelligt weiternisten zu lassen.
Er war nämlich nicht eigentlich dumm, aber hatte
immer etwas mehr im Kopf als das, worauf's gerade ankam.
Und wenn man eine Frage an ihn that, dann dämmerte
in seinen Augen immer so ein wunderndes Lächeln auf, als
ob ein Kind aus Träumen erwacht. Weil er aber ein
hübscher Bengel war, hatten ihn die Lehrer gern und schoben
ihn anfangs mit fort, zumal er von Zeit zu Zeit eine gute
Arbeit lieferte. Die Jungens freilich hänselten ihn wegen
seines verlorenen Wesens, und so wurde er so nach und nach
noch wortkarger und stillsinniger, als er von Natur schon
war; außer daß hin und wieder zu Aller Staunen eine jähe
Ausgelassenheit in seltsam kindischen Sprüngen und Tänzen
aus ihm herausbrach.
Solch Gebaren überkam ihn noch am Tage seiner
Einsegnung - fünfzehn Jahre war er damals -, weil er
sich wieder auf seinem Besitztum einhecken durfte; das lag
etwa zwei Meilen von dem unsrigen entfernt. Dort lebte
er in Gemeinschaft mit seinen drei Schwestern, die sämtlich
älter waren als er und ihn sehr verhätschelten. Die Mutter,
eine schlichte, nachdenkliche Frau, war schon vor Jahren
gestorben - wie man sagte: aus Gram über ihren Mann.
Der war nämlich Einer von den neumodischen Großbauern,
denen der gemächliche Erwerbssinn von ehedem im
Gewoge unsrer hastigen Zeit so langsam ersäuft, bis sie
ihren Reichtum nicht mehr hinterm Pfluge aus dem Acker,
sondern auf der Eisenbahn aus den Bankhäusern der großen
Stadt holen wollen. Er hatte in amerikanischen
Bergwerkspapieren spekulirt und ausnahmsweise Glück
gehabt. Zugleich aber hatte die Genußsucht, die hinter dem leichten
Gewinn her in die Städte schlich, sein hitziges Blut angesteckt,
und man erfuhr, daß er von seinen Reisen meist erst über
die Weinstuben und schlimmere Orte hinweg heimkehrte. Und
das gab ihm auch den Rest. Denn als er einsmals, in der
Dorfschenke, ein Schwindler gescholten wurde, hat ihn in der
Wut des Rausches ein unmenschlicher Zorn überwältigt, also
daß ein Schlagfall ihn niederwarf, an dem er Tags darauf
verstarb."
Jetzt müßigte sich auch der Wirt zu der Erzählung
seines Gastes eine Regung des Beifalls ab und machte "Hm,
ja!" Auch schien er daran eine Erläuterung knüpfen zu
wollen, denn sein Mund rundete sich sacht, als ob er ein
Wort auf der Zunge wälzte.
Der Amtmann aber ließ sich nicht stören und fuhr
fort: "Bei alledem war er doch altväterisch oder einsichtig
genug gewesen - oder zur rechten Zeit unter die Erde gefahren,
um das Gewonnene nicht in weiteren Wagnissen zu
verzetteln. Vielmehr hatte er's zumeist in Grund und Boden
festgelegt und einen stattlichen Besitz von Land und Wiesen
um sein Gehöft gesammelt. Und das Anwesen, das er seinen
Kindern hinterließ, war der schönste Bauernhof in der Umgegend
und konnte sich mit manchem altvererbten Rittergute
messen.
Da also machten sich's die vier Geschwister nach dem
Tode des Alten bequem. So lange der nämlich lebte,
hatte er sie nicht viel um sich gelitten; teils wol, um ungestörter
seinen wüsten Sinnen nachzuhängen, vielleicht auch
weil er sich im Grunde seines ungezähmten, aber väterlichen
Herzens vor den heranwachsenden Töchtern schämte.
Vornehmlich aber sollten sie - wie er selbst sich ausdrückte -
mit der Welt mitgehen lernen, wovon ja ein Jeder seine
eigene Auffassung hat. Und wenn er sich auch selber nicht wenig
drauf zugute that, daß er mit der Mistforke angefangen hatte, und
nicht selten mit seiner Unwissenheit und seinen harten Händen
prahlte, so sollten seine Kinder doch mal wissen, was vornehme
Art wäre; und er träumte gar vielleicht von adeligen
Schwiegersöhnen.
Die Fräuleins aber mochten wol der Meinung sein,
daß die Wissenschaft und das Weltverständnis, worauf der
Alte sie verwies, zur Genüge in seinem Gelde steckten. Denn
wie sie aus ihrer Erziehungsanstalt heimkehrten, war nicht
viel mehr an ihnen hängen geblieben, als der äußerliche
Modekram, allsodaß die guten alteingesessenen Familien,
an welche sie sich drängten, ihnen die Lust zu weiteren Besuchen
durch einige verbrämte Deutlichkeiten bald benahmen. Und
da sie selbst sich für den Umgang mit Ihresgleichen zu fein
dünkten, so geschah es, daß sie schließlich ganz auf ihre
eigene
Vornehmheit angewiesen waren.
Das that indessen ihrem Hochmut keinen Abbruch;
vielmehr beschwerten sie sich selbstgenüglich über den Hochmut
oder die Gewöhnlichkeit der Andern und fanden eine
Weile reichliche Erbauung an derlei Gesprächen. Wie sie
überhaupt so unter sich in merkwürdiger Einigkeit lebten; gleich
Ratten, die genug zu fressen haben. Und sie unterschieden
sich im Ganzen eigentlich nur dadurch, daß sie nicht desselben
Alters waren; sonst eben ließ sich nicht viel mehr von ihnen
sagen, als daß sie das Glück hatten zu leben - und Andere
das Unglück."
Der Erzähler besann sich, daß er nicht zuviel vorweg
verraten dürfte. "Doch", lenkte er ein, "da es nun einmal
den Menschen eigentümlich ist, sich bethätigen und nach ihrer
Weise nützlich machen zu wollen, so wurden sie allgemach
des Haderns müde, zumal Keiner da war, der ihnen widersprach,
und verfielen endlich auf den Plan, sich der Erziehung ihres
Bruders anzunehmen. Denn Der hatte allerdings Behagen
blos am Müßiggang; und Sommers lag er lang im Busch oder
an den Feldrainen herum und sah den Vögeln und Käfern
zu, und Winters hockte er in den Spinnstuben und horchte
den Gespenstermärchen und Schauergeschichten der Dirnen und
alten Weiber. Außer daß er öfters mit vieler Emsigkeit in
abenteuerlichen Büchern schmökerte und den Leuten, was er
gelesen, noch abenteuerlicher wiedererzählte."
Hier riß der Buchhändler die Augenbrauen in die Höhe
und wollte etwas einwenden. Doch blieb ihm der Widerspruch
in den Stirnfalten hängen, da der Amtmann unverdrossen
weitersprach, als läse er aus einem seiner Protokolle vor.
"Bedauerlicher Weise, muß ich sagen, wurde er auch
nicht unter die Soldaten genommen, indem man bei der
Musterung seine Brust zu schwach befand; sonst hätten sie
ihn da wol noch ein Bischen zurechtgebogen. Also - von
der pfiffigen Betriebsamkeit des Alten schien nur auf die
Schwestern je ein Stückchen gekommen zu sein. Und ob auch
diese nichts dawiderhatten, daß der Heinz dermaßen seine Zeit
verthat - weil er sich's ja leisten konnte, so däuchte ihnen doch,
als vergebe er sich etwas durch die Beschaffenheit seiner Neigungen,
und sie hätten ihn wol lieber auf den schlimmen Wegen seines
Vaters lustwandeln sehen. Daher sie sich die Aufgabe machten,
ihm das Bewußtsein seiner künftigen
Großgrundbesitzerwürde
zu Gemüte zu führen.
Das war nun freilich eine langwierige Arbeit; indes
gebrach es ihnen ja gleichfalls nicht an Zeit, und auch an
Geduld nicht. Denn sie hatten ihn, wie gesagt, sehr lieb auf
ihre Weise, und all ihr Gefühl erschöpfte sich in der Besorgnis
um den Bruder, oder richtiger: in den Absichten, die sie mit
ihm hatten. Weswegen sie auch umso eifriger waren, ihn nach
ihrer Einsicht zu vervollkommnen. Zudem war der Heinz Keiner,
der rechten Anlaß bot zu Unmut oder Tadel; eher war er meist
von einer unwillkürlichen Nachgiebigkeit und that oder ließ
im Augenblick gern, was man von ihm begehrte, fast wie
ein Schlafwandler. Nur daß sie immer wieder das Nämliche
an ihm aussetzen mußten.
Und so erreichten sie durch ihren Einfluß bloß, daß
sein verworrener Geist je länger je mehr in eine gewisse
eigensinnige Schlaffheit versank. Denn um in ihrem Sinne
den Herren auszuspielen, dafür war er von jeher zu gleichgiltig
gegen das Treiben der andern Menschen gewesen; und von
der besonderen Bildung seiner Schwestern hatte er doch wol
nicht genug genossen, als daß sie ihn auf diesem Wege zu
ihrer Weisheit hätten bekehren können."
Bei dem Worte Bildung war der Buchhändler aufs neue
unruhig geworden und schüttelte höchst mißvergnügt den
Kopf, als der Amtmann seiner abermals nicht achtete.
"Um jedoch", sagte dieser rasch, "einen wirklichen Herren
seines Gutes vorzustellen, dazu mangelte es ihm am Nötigsten:
an Lust und Erfahrung. Und das spürte er auch selbst und
scheute sich, seinen Leuten in Wirtschaftssachen dreinzureden.
Einmal soll ihn sogar seine gewohnte Fahrigkeit verlassen
haben und soll er ganz wild geworden sein und die älteste
Schwester mit einem Messer bedroht haben, als ihn diese
gar zu heftig drängte, einen seiner Knechte zu bestrafen;
der hatte sie nämlich ausgelacht und ihr erklärt, er ließe
sich nur vom Verwalter befehlen. Der Heinz aber, erzählte
man im Dorfe, habe sich nach diesem Vorfall mehrere
Stunden lang eingeschlossen und immerfort laut mit sich
selber gesprochen; und als er herauskam, sei er vor die
Schwestern hingetreten und habe ihnen Vieles über
Menschenwürde gesagt, vermischt mit Versen von Schiller,
die er auf der Schule gelernt hatte.
Seit dem Tage empfanden sie eine Furcht vor dem
Bruder, den sie bis dahin immer noch den Kleinen genannt
hatten - trotzdem er lang genug war, und glaubten, er
sei ein Mann geworden. Daher sie sich von da an scheuten,
ihm lehrhafte Vorhaltungen zu machen, sondern alle Pläne,
die sie für ihn trugen, so von hinten herum betrieben."
Hier hielt der Amtmann unwillkürlich inne; denn
sonderbar röchelnde Töne begleiteten auf einmal seine
Worte, und Alle sahen zu dem Wirte hin, der mit gefalteten
Händen aus tiefstem Leibe her dem Gott des Schlafs ein
Loblied schnarchte. Offenbar aber störte das plötzliche
Schweigen seine Andacht. Er richtete sich gähnend auf,
und: "Frisches Gläschen gefällig?"
Und während der Förster sich beeilte, das unberührte
Glas zu leeren, nahm der Buchhändler die Gelegenheit
wahr, auch einmal zu Worte zu kommen: "Du bist heut
wirklich sehr ausführlich", krähte er den Freund an, mit
widerspenstigen Geberden durch das Zimmer stelzierend.
"Überhaupt - woher weißt du denn das alles? Und überhaupt
- vorhin, was du da von Bildung geredet hast -"
Doch Der fuhr unsanft dazwischen: "Überhaupt -
wem's nicht ansteht, wie ich erzähle, der braucht ja nicht
zuzuhören; überhaupt - kann ich ja wol aufhören." Und
geärgert verkroch er sich in seine Sopha-ecke.
Der Wirt aber, der eben mit dem gefüllten Glase des
Försters zurückkam, meinte, das bezöge sich auf ihn, und
indem er seine fetten Schenkel streichelte und verlegen
stehen blieb, sagte er behäbig: "Naa, nicht stören lassen,
Amtmann! Hört sich alles - blos Gewohnheit - grade wenn
man so eins nickt. Muß man kennen. Gewöhnt sich Alles."
Und nach dieser Anstrengung sank er pustend wieder in
den Lehnstuhl.
Nun ging auch der Buchhändler ans Begütigen, und
der Hang des Amtmanns zum Erzählen that das übrige,
sodaß er wieder aus der Ecke schlüpfte. Und nachdem er
kurz vom Bier genippt, schickte er sich an, die Geschichte
in seiner umständlichen Weise weiterzuhaspeln. Wozu
der Förster befriedigt nickte. "Also von hinten herum",
wiederholte er brummend den Erzähler.
"Also von hinten herum, - ja!" bestätigte der Amtmann.
"Und auf diese Art brachten sie den Heinz dann auch
bei meinem Vater an. Denn allmählich mochte ihnen
doch wol ein Licht darüber aufgegangen sein, daß
zu einem Gutsherrn noch ein wenig mehr gehöre, als
Vornehmthuerei und Befehlerei und kostspielige
Vergnügungslust. Und die wachsende Dickleibigkeit
ihres Verwalters und die seidenen Staatskleider der Frau
Verwalterin mochten ihnen diese Einsicht noch um einiges
erleichtert haben, wenn auch ihr Besitztum stark genug war,
etliche fette Bäuche und seidene Klunker nebenher zu tragen.
Und so waren sie denn eines Tages bei uns vorgefahren
und hatten meinem Vater, der als ein tüchtiger Landwirt
weitum bekannt war, mit vielen Schmeicheleien und
Höflichkeiten ihre Lage auseinandergesetzt. Und schließlich
baten sie ihn fast mit Thränen, sich ihrer Bedrängnis
anzunehmen und den Heinz zu vermögen, daß er sich auf
unserm Gute in der Ökonomie vervollkommne - wie sie
sich ausdrückten.
Wenn nun gleich mein Vater von ihrem Wesen und
dem, was man sonst über sie sprach, nicht sonderlich erbaut
war, so that ihm doch das schöne Besitztum leid; und da
er außerdem von mir gehört hatte, daß der Heinz ein williger
Bursche wäre, wenn man ihn nur recht zu nehmen wüßte,
so sagte er zu und beauftragte mich, ihn zu holen.
Dazu war ich denn auch gern bereit, zumal ich dem
Heinz von jeher ein gewisses Vertrauen abzugewinnen
verstand. Und hatte er einmal seine beredten Anwandlungen,
so vermochte ich besser in ihn zu dringen, als insgemein die
Andern; auf der Schulbank schon und später noch, wenn
ich ihn mitunter in den Ferien besuchte. Und ich bildete
mir dazumal nicht wenig ein auf die vermeintliche Kunst,
die Menschen nach meinem Willen zu lenken; während
es nichts weiter war, als daß ich ihrem Willen in mir Raum gab.
Und so geschah's auch diesmal. Denn der Heinz war
froh, sich an was Neuem versuchen zu dürfen, sodaß
ich ihm nur mäßig zuzureden brauchte. Ich aber freute
mich sehr, daß mir's - so geglückt war. Und so - -
kam er zu uns."
Der Amtmann verschluckte einen Seufzer. "Ja! so
geht's!" sagte er brütend, und die Andern nickten.
,Ja, also!" er raffte sich auf, "also - nun war er
bei uns. Und er ließ sich ja auch ganz gut an. Wenigstens
that er, was man ihm auftrug, ob's schon nicht recht haften
wollte. Und wenn er so mit seinem langen blonden Haar
und seiner schwarzen Pudelmütze, die er fast nie abthat, durch
Hof und Felder schlenderte, glich er eher einem verkleideten
Predigtamtskandidaten, der in den Wolken nach Engeln suchte,
als dem Sohn eines Bauern.
Dabei aber brachte er's doch fertig, daß ihn Alle wohl
leiden mochten; und besonders die Dirnen schickten ihm manchen
verstohlenen Blick nach, um so lieber, als er nicht darauf zu
achten schien. Das heißt - ich meine nicht - ich will ihm nicht
etwa was vorwerfen - nein: er that wirklich nichts dazu, und
in seiner Schweigsamkeit steckte nichts von Berechnung
oder Hochmut.
Und vielleicht war sein zwecklos Wesen grade der
Grund, weswegen - ja - na ja! weswegen die Marie so
nahe mit ihm that wie sonst mit Keinem; ja. Aber merkwürdig
war es doch, wie die Beiden für gewöhnlich so um einander
herumgingen, als wären sie Jedes allein auf der Welt, und
dann plötzlich mal zusammentraten und ins Reden gerieten,
als hätten sie die ewige Seligkeit entdeckt.
Ja - merkwürdig", wiederholte er gedehnt, wie wenn
er noch immer drüber grübelte, warum ihm selbst das nicht
gelungen war.
"Na! sie paßten ihrer Natur nach doch ganz gut zusammen",
bemerkte der Buchhändler wichtig und wackelte ungeduldig
mit den Knieen; denn er brannte augenscheinlich schon darauf,
daß sein Freund mit der Liebesgeschichte herausrücken würde.
Der indessen hatte wol andere Absichten.
"So? meinst du?" fragte er trocken. "Nun ja, sie
waren sich ähnlich. Aber Er war ein Mann! Und mich
verdroß der ewige lässige Gleichmut seines weichen
schönen Gesichtes.
Ja, ein schön Gesicht hatte er," räumte der Erzähler
halb geringschätzig sich selber ein. "Das heißt, richtiger
müßte
man wol schönlich sagen: so wenig Kraft lag darin. Und
so'nes rechten, ehrlichen Zornes war er garnicht mächtig; der
artete gleich zur Wut in ihm aus, sodaß Alle sich entsetzten,
als die auch bei uns ihn einsmals überkam. Da war ihm
nämlich oben von seiner Mütze das Pelzfleckchen heimlich
abgeschnitten worden; und er glaubte, man hätte ihm einen
Schimpf anthun wollen.
Ich wußt'es freilich besser." Der Amtmann lachte gewaltsam;
es klang fast wie ein Ächzen.
"O ja! Scharfe Augen sind eine verwünscht nützliche
Gottesgabe," sagte er bitter. "Ja, also - am selbigen Morgen
hatte ich von ohngefähr gesehen, wie die Marie da hinterm
Scheunthor das Ding aus der Tasche langte und es so mit
einem Blick und einem Lächeln ansah - so - gewissermaßen
so wie eine Rosenknospe, die eben aufbrechen will.
Und da ich sie genugsam kannte und wohl oder übel
einsehen mußte, daß auf diesem Feld kein Weizen für
mich wuchs, so biß ich die Zähne zusammen - und hängte
meine Hoffnungen an den Nagel - und nahm mir am Abend
den Heinz vor - und sagte ihm, was ich gesehen hatte, und
was er nun dem Mädchen und seinem eigenen Gewissen
schuldig wäre, wenn anders - er nicht vorziehen wollte, sich
sofort wieder nach Hause zu scheren."
Des Amtmanns verschleierte Stimme klang noch
eintöniger als gewöhnlich, während er diesen mühsamen
Satz fügte, und seine Finger zitterten leise, als er jetzt den
Schweiß aus seinen Augenhöhlen wischte. Der Förster
schaute steif ins Glas. Der Buchhändler freilich musterte
enttäuscht die Decke des Zimmers, obschon er gleichfalls
schwieg. Der Wirt aber, der noch immer glauben mochte,
daß er etwas gut zu machen hätte, wollte dem Erzähler einen
Trost vergönnen, und indem er seine fleischigen Hände
auf die Tischplatte legte, daß es klatschte, stöhnte er
beifällig:
"Sehn Sie, Amtmann - Gut! sehr gut! Hausrecht gebrauchen!"
Da mußte denn auch der Amtmann mitlachen, und
der Wirt blickte geschmeichelt seiner trefflichen Bemerkung nach.
Und nachdem sie Alle laut zu einem herzhaften Schlucke
angestoßen und nach der Befeuchtung durch mehreres
Räuspern sich wieder in Sammlung versetzt hatten, fuhr
Jener kräftigeren Tones mit gleicher Ruhe fort.
"Also," hub er an, "so wurden sie ein Paar. Denn der
Heinz hatte diesmal gar keine Verwunderung gezeigt
bei meinen Eröffnungen. Vielmehr nickte er nur, als
hätte er das längst erwartet, und gab mir die Hand, und
meinte: Natürlich! - Das war Alles, obgleich er wenige
Stunden zuvor getobt hatte, daß ihm der Schaum auf den
Lippen stand. Und die Marie - ja - wollt ich sagen, unsre
Leute - ja - auch die schienen nichts Verwunderliches
drin zu sehen, ob es doch ganz außer Ordnung war,
daß ein reicher Erbe eine hergelaufene arme Magd freite.
Nur mein Vater schüttelte zuerst den Kopf. Aber
da ihr Vormund, der Pfarrer, eilends seinen brieflichen
Segen schickte, ließ auch er der Sache ihren Lauf, zumal
die Beiden sich kaum anders geberdeten, als vor ihrer
Brautschaft. Die Marie verrichtete ihre Arbeit still für
sich hin wie ehedem, und der Heinz hantirte träumerisch
auf Hof und Feld herum wie früher; obschon es mir
zuweilen däuchte, daß er über einem Entschlusse brütete.
Sonst aber schien es, als ob es immer so bleiben sollte.
Denn wenn sie sich auch dann und wann recht zutraulich
bei der Hand faßten und manche lange Unterredung führten
in irgend einem verborgenen Winkel, so meinte man doch
eher zwei Einsegnungskinder zu sehen, die sich über
Abendmahl und Beichte und andere Geheimnisse vernehmen,
als zwei Liebesleute, die zusammen ihre Zukunft berieten.
Allsodaß mir's weniger sauer wurde, dies Alles so sänftlich
mitanzuschauen, als ich anfangs gedacht hatte.
Zudem" - der Amtmann stockte einen Augenblick,
dann hob er den Kopf und eine herbe Strenge lag in seiner
Stimme - "zudem suchte ich einen eitlen Trost in der
jungenhaften Überhebung, daß mir's abermals gelungen
wäre, dem Schicksal unter die Arme zu greifen. Denn es
stand mir außer jedem Zweifel, daß die Marie den Heinz
zu einem brauchbaren Kerl zurechtrücken würde. Und indem
ich mich des Glaubens vermaß, das Glück zweier Menschen
bewirkt zu haben, verbarg ich mir die Ohnmacht meines
eigenen Begehrens, und meine Selbstgefälligkeit galt mir
für Selbstlosigkeit.
Es kamen aber nach etlichen Wochen doch häufiger und
häufiger die Augenblicke, in denen mir bei aller Verblendung
nicht recht geheuerlich zu Mute war. Denn es ist das Herz
Beides, ein trotzig und verzagtes Ding, wie die Schrift sagt,
- und ich überlegte schon, durch welche unverdächtige Lüge
ich meinen Alten dazu bringen könnte, daß er mich noch
Einmal in die Fremde gehen ließe.
Da war es mir nun eine große Erleichterung, als ich
eines Tages - ganz durch Zufall - mitanhörte, wie der
Heinz ihr zu verstehen gab, daß er nicht mehr länger bei
uns bleiben wolle, und dann in sie drang, ihren Dienst zu
kündigen und mit ihm auf sein Gut zu ziehen. Und zwar
mußte ihm das wol ganz plötzlich in den Sinn gefahren
sein, wenigstens schien er es zum ersten Male zu verlautbaren;
denn die Marie zeigte sich über die Maßen erstaunt und
machte einige verwunderte Einwendungen.
Und ich selber staunte fast noch mehr, welche Kunst
der Überredung dieser zerfahrene Held hier auf einmal
von sich gab und mit was für lieblichen Worten er es
auszudrücken wußte, wie gut ihm seine Schwestern wären
und wie sie sich an seinem Glücke freuen würden. Und
als er dann noch ihre Überraschung ausmalte, wenn er
unvermutet so als Bräutigam vor ihnen stehen würde,
und das so greifbar schilderte, als hätt er's schon erlebt,
und der Marie dabei so recht ingründig in die Augen kuckte, da
hörte sie blos noch unverwandt zu, und lächelte wie bezaubert,
und nickte nur glückselig von Zeit zu Zeit und wunderte sich
garnicht, daß er seinen nächsten Lieben noch kein
Sterbenswort von Alledem gemeldet hatte.
Ja, und am andern Morgen thaten sie auch wirklich
meinem Vater ihre Entschlüsse kund. Das heißt" - verbesserte
sich der Erzähler zögernd - "eigentlich that Ich es. Der Heinz
nämlich hatte mich vorher bei Seite genommen und mir
anvertraut, was ich schon wußte, und mich gebeten, als ihr
Wortführer mitzugehen, weil sie Beide, wie er meinte, nicht
geschickt genug in solchen Sachen wären. Und wenn ich
auch im Stillen glaubte, mir allmählich einen klareren Begriff
von seinen verdrehten Eigenschaften gebildet zu haben,
und nahe daran war, ihn für einen ganz durchtriebenen
Schelmen zu halten, so wollt ich doch die Eigenheit des
Mädchens schonen; denn ich kannte ja ihre Unbeholfenheit
in allen Vorfällen, wo sie für sich selber einzutreten hatte.
Und da mich außerdem -" seine Stimme langte wieder
ins Scharfe - "ja! da mich meine kleinmütige Anmaßung
stachelte, vor den Andern und mir selber meine Rolle
weiterzuspielen, so kam es, daß ich mich abermals zum
Sachwalter eines fremden, ungewissen Schicksals aufwarf,
oder vielmehr brauchen ließ; diesmal freilich mit der
unbehaglichen Einsicht, daß Nachgiebigkeit noch nicht
Güte ist.
Trotzdem muß ich die Angelegenheit eindringlich genug
vorgetragen haben; und mein Vater, der ohnehin wol der
Marie nichts in den Weg legen mochte, vielleicht auch froh
war, seiner halben Verantwortlichkeit für das sonderbare
Brautpaar enthoben zu sein, ging bereitwilliger auf ihren
Wunsch ein, als ich vermutet hatte, und stellte ihr sogar
anheim, das Gut vor Ablauf ihrer Dienstzeit zu verlassen.
Das schien der Heinz nun wiederum als selbstverständlich
erwartet zu haben. Wie ich nämlich merkte, hatte er seine
Siebensachen schon zusammengepackt, und auch die Marie
machte ihren Koffer noch am selben Vormittag reisefertig.
Darüber waren wir denn doch ein wenig außer Fassung,
zumal es ein Sonnabend war und wir mitten in der Ernte
standen und jede fleißige Hand doppelt gut gebrauchen
konnten. Aber die Marie schien plötzlich nur noch Sinn
für ihr neues Vorhaben zu spüren; und es war, als ob ihr
ganzes Schaffen unter einem Bann geschähe. Doch da
mein Vater sich gewöhnt hatte, sie in allen Stücken gewähren
zu lassen, auch wol an seinem Wort nicht drehen wollte,
so schwieg er zu ihrer Eilfertigkeit. Im Stillen allerdings
wunderte er sich ebenso wie ich über ihre Zurüstungen;
denn unsre Geschirre waren sämtlich im Felde beschäftigt,
sodaß es uns unklar blieb, wie die Beiden ihre Habe wegbringen
wollten.
Zwischen dem Mittagessen aber eröffnete uns der Heinz,
daß sie bei dem schönen Wetter die anderthalb Meilen zu Fuß
machen würden und daß er gedächte, ihre Sachen am nächsten
Tage mit eignem Fuhrwerk abzuholen. Das mochte er sich
wol für seinen Überraschungsplan ausgesonnen haben, da
er sonst in Allem ziemlich bequem war.
Nachmittags that dann die Marie noch wacker bei der
Arbeit mit, sodaß mein Vater seinen schwachen Verdruß
herunterschluckte und auf meine Bitte ihr zu Ehren etwas
früher Feierabend läuten ließ. Dann legte sie ihr Sonntagskleid
und ihren Brautschmuck an und nahm von den Leuten, die im
Hofe versammelt standen, und von meinem Vater Abschied;
ich nämlich hatte ihnen schon vorher Lebewohl gesagt. Ja,
und der Heinz - mit seinem langen Haar - ging immer hinter
ihr her - und nickte jedes Mal, wie sie der Reihe nach an
Alle herantrat und Jedem die Hand drückte. Sie sprachen aber
Beide kein Wort, und es war so feierlich, daß ein paar
von den Dirnen laut aufheulten. Ja, und dann - ja - gingen
sie davon - Hand in Hand - wie Kinder -"
Der Amtmann starrte ins Leere, abwesend im Vergangenen
unten. "Ja, ein seltsamer Anblick. Der Heinz hatte sich eine
lange Haselstaude als Wanderstab zurechtgeschnitzt. Und
wie ich so von meinem Giebelfenster aus die Beiden so durch's
Hofthor schreiten sah - ihn mit seinem Stecken, sie ein kleines
buntes Bündelchen am Arm, da fiel mir auf einmal die
Volksweise ein - von dem Schäfer und der verwunschenen
Königstochter, und - es schnürte mir das Herz zusammen,
als ich - an den Ausgang des alten Liedes denken mußte.
Ja, - so schritten sie davon - in den brennenden Abendhimmel
hinein - schattenhaft schwarz wie ein Wandelbild, - bis der
Wald sie verschlang."
Der Amtmann schüttelte sich auf aus seiner Entrücktheit;
eine dicke Schweißperle war ihm die Backenfurchen
heruntergerollt. Er musterte hastig die Mienen der Andern,
und sein Blick ging unsicher, als besänne sich sein Inneres
mit Unwillen auf ihre Gegenwart. Die aber scheuten sich, ihn
anzusehen; ein bedrückendes Mitgefühl bog sich zwischen
ihnen durch den Raum, eine unbestimmte Erwartung - und
auch der Wirt suchte eine Gemütsbewegung zu bemeistern,
indem er langsam die Daumen um einander zu drehen begann.
"Ja, also!" ermannte sich der Sprecher und trocknete
flüchtig sein Gesicht, "ja - am nächsten Tage also - wollte
er ihre Habseligkeiten abholen. Er kam aber nicht. Und am
dritten Tage desgleichen nicht. Und wenn ich mir das auch
sehr gut mit seiner eigenen Nachlässigkeit zu reimen vermochte,
so kannte ich doch die Sorgsamkeit der Marie und fing an,
allerlei trübe Gedanken zu spinnen; bis er endlich am zweiten
Sonntag nach ihrem Abzug bei uns vorfuhr. Und was ich da
in seinem Gesichte las, machte mich noch argwähnischer: so
unstät und verdrossen waren alle seine Geberden, und seine
Augen lagen wie erschöpft in ihren Höhlen.
Da ließ es mir denn keine Ruhe, zumal er mir fast ängstlich
auszuweichen suchte; und als er losfahren wollte, sprang ich
zu ihm auf den Bock und sagte, ich würde ihn ein Stück begleiten.
Das konnte er nun nicht wohl abschlagen. Aber ich merkte,
daß er die Lippen zusammenkniff, wie er immer that, wenn
er hartnäckig schweigen wollte. Und so saßen wir eine gute
Strecke neben einander, ohne ein Wort zu finden, und ich
verzweifelte schon daran, etwas aus ihm herauszubringen.
Denn auch mir wurde allmählich ganz beklommen ums Herz,
und dabei war die Lust so schwül an dem Tage, daß man sich
kaum regen mochte; blos daß wir ab und zu uns scheu von
der Seite her ansahen.
Auf einmal brach er in ein krampfhaftes Schluchzen und
Weinen aus, und ich - na - ich war ein junger Bengel - und - wie
gesagt, die Luft war so schwül an dem Tage - und - na ja - da
weinten wir Beide um die Wette, - und dann - hat er mir Alles
offenbart.
Donnerwetter!" unterbrach sich der Amtmann und lachte
verlegen, während ihm die Augen flimmerten. Von den
Andern rührte sich Keiner.
"Schwerenot, es war doch eigentlich selbstverständlich,"
schimpfte er weiter. "Nämlich: die Überraschung und die
Schwestern - das stimmte nicht zusammen. Und auch die
Marie - kurz, es war Alles anders geworden, als der Heinz
es Sich und Ihr und Mir vorgespiegelt hatte. Und wie er mir
dann nach und nach den ganzen Hergang erzählte, da konnt
ich nicht begreifen, daß ich mich von seinen Hirngespinnsten
überhaupt hatte bestricken lassen.
Die Beiden waren also an jenem Sonnabend garnicht
zu Hause angekommen. Unterwegs nämlich waren sie auf
den Einfall geraten, für die Schwestern einen Strauß wilde
Blumen zu pflücken; und dabei hatten sie sich immer tiefer
in den Wald verloren und konnten zuletzt die Straße nicht
wiederfinden. Und da sie sich im Dunkeln nicht noch mehr
verirren wollten, hatten sie sich schließlich im Moos ein
Lager zurecht gemacht und derart bis in den Morgen hinein
fest geschlafen. Und der Heinz freute sich wie ein Kind in
der Erinnerung an dies närrische Begebnis.
Dann, erzählte er, hätten sie ihre Wanderung fortgesetzt
und auch bald auf die Straße zurückgefunden. Und so seien
sie fröhlich bis vor das Dorf gekommen. Da habe er noch
einen kleinen Umweg gemacht und seine Braut durch die Felder
geführt und ihr sein ganzes Besitztum gezeigt. Die Marie
aber sei immer stiller geworden, als ob all der Reichtum sie
bedrückte; und endlich habe sie ganz verschüchtert seine
Hand gefaßt, und so seien sie in das Haus getreten, grad als
seine Schwestern zur Kirche aufbrechen wollten. Und ich
kann mir wol vorstellen, wie das arme Ding in seinem
schlichten Bauernrock, mit dem verwelkten Feldblumenstrauß
in der Hand und dem Bündelchen am Arm, vor den geputzten
hoffährtigen Damen gestanden haben mag.
Ja, und dem Heinz stiegen die Thränen von Neuem ins
Auge, wie er das Übrige so ruckweis aus sich herausholte;
und in seiner Stimme bebte etwas wie ein keimender Haß.
Ich mußte aber nach Allem vermuten, daß die Schwestern
schon längst Kunde hatten von der Überraschung, die ihnen
zugedacht war. Denn als die Marie in ihrer Unschuld auf sie
zutrat, um ihnen den Strauß zu überreichen, blickten sie
gebieterisch an ihr herunter und wandten sich kurz ab und
überschütteten ihren Bruder mit Liebkosungen. Und noch
eh der ihnen ein Wort der Erklärung gesagt, und da sie wol
den roten Zorn über sein Gesicht fliegen sahen, stürmten sie
auf die Marie mit ihrem Geschwätze ein, und sprachen sie
als gnädiges Fräulein an, und redeten von einem großen
Glück und einer hohen Ehre, aber alles so, daß nur sie s
elber wußten, auf wen sich das bezog und ob sie es im Ernste
meinten oder im Spott. Und dazu fuchtelten sie mit ihren
Sonnenschirmen und Gesangbüchern um sich her, als wollten
sie sich eine Berührung vom Leibe halten. Und plötzlich
machten sie eine tiefe Verbeugung vor dem ganz und gar
verwirrten Geschöpf und hauchten eine Entschuldigung,
daß sie sich im Dienst des Herrn nicht stören lassen dürften,
und umarmten und küßten abermals den Heinz, und dann
rauschten sie erhobenen Hauptes hinweg.
Und so trieben sie's dann weiter, ohne daß der Heinz
ihnen beikommen konnte. Denn die Befürchtung, die ihn
so lange auf seinem Gut zurückgehalten hatte, das Gebaren
der Schwestern werde in offene Feindseligkeit umschlagen,
erfüllte sich nicht. Vielmehr überboten sie sich gegenseitig
an auserlesenen Liebenswürdigkeiten im Verkehr mit dem
Mädchen; und der Heinz konnte sich's garnicht erklären,
warum sich ihre Worte in seiner Erinnerung so scheel und
gehässig ausnahmen, während sie beim Anhören eitel
Freundschaft zu atmen schienen.
Und ich selbst bin heut noch überzeugt davon, daß sie
nichts Böses zu thun vermeinten, und glaube darum wohl,
daß sie sich gar freimütig vor ihrem Bruder bewegt haben
mögen, ob sie gleich sicherlich all die hochtrabende Herablassung,
mit der sie das Mädchen quälten, genau beredet und berechnet
hatten. Ja, sie waren allerwege nur darauf bedacht, ihm zu
seinem Glücke zu verhelfen, und meinten ihn gewiß durch
eine fromme List vor einem großen Unglück und schmählicher
Unehre zu bewahren.
Auch will ich mir, nach soviel Jahren, gar nicht mehr verhehlen,
daß diese verbildeten Frauenzimmer in ihrer Dünkelhaftigkeit
unmöglich ein Empfinden für den Kern und Wert dieses
einfachen Menschenkindes haben konnten; und so urteilten
sie wol wie jener Krämer, der den Wein nach Ellen messen
wollte. Und indem sie immerfort betonten, die Marie die sei
doch keine Magd, die am Gesindetisch essen müßte, bildeten
sie sich vielleicht noch ein, ihr eine unverdiente Gnade zu
erweisen, während sie zugleich mit hämischem Behagen das
schlauste Mittel trafen, ihren schlimmen Willen durchzusetzen.
Denn die Marie, in ihrer unklaren Herzenseinfalt und
demütigen Befangenheit mußte sie natürlich wol zu Anfang
in solchem Aufwand geschraubter Redensarten eine höhere
Stufe der Gesittung vermuten; und bei ihrer eifrigen
Geduldsamkeit meinte sie vielleicht durch eine rastlose
Dienstbeflissenheit ihren Unwert ausgleichen und das
Wohlgefallen ihrer vornehmen Verwandtinnen erwerben
zu können. Und darum war sie schon am zweiten Tage
emsig wie immer an die Arbeit gegangen und hatte geschafft
und gefördert und nach dem Rechten gesehen - was wol
sehr not that in dieser verwahrlosten Wirtschaft; und auch
dort hatten die Leute sich willig ihren Winken gefügt, ob
auch der Verwalter bei den Schwestern Klage darüber zu
führen suchte.
Durch solches Wirken aber machte sie den Riß nur
immer breiter; denn nun begannen die Schwestern ihre
dienstbarliche Tüchtigkeit, wo immer, zu beloben und
über die Maßen hervorzukehren. Und indem sie zugleich,
besonders vor dem Bruder, mit halben Anspielungen
bedauerten, daß sie leider sonst so wenig sich zu schicken
wüßte, schoben sie das Mädchen scheinbar unabsichtlich
immer leichter in die Stellung einer Magd herab.
Die Marie aber wurde immer schweigsamer
unter dem Eindruck dieser Wirrsäligkeiten. Und als der
Heinz sie eines Besseren bedeuten wollte, wehrte sie ihn
sacht mit ihrer sanften Entschiedenheit von sich. Denn ihr
gesundes Gefühl mochte sie gar bald belehrt haben, daß all
das Gespreize der Schwestern einer unversöhnlichen
Widersacherei entsprang, und daß sie selbst mit Allem, was
sie that, nur Wasser auf ihre Mühle schüttete. Und dem Heinz
dies zu klagen und dadurch Zwietracht zwischen den Geschwistern
zu stiften, das widerstand wol ihrer graden Seele und kam ihr gar
vielleicht nicht einmal in den Sinn.
Und so gingen denn die Beiden bald verstört und sprachlos
um einander herum, ähnlich wie es ehemals bei uns gewesen
war, wenn sie sich nicht ganz allein und unbeobachtet wußten.
Und die Marie vergrub sich immer tiefer in sich selbst und ihre
Hilflosigkeit, und ging fast wie zum Troste immer eifriger der
Arbeit nach, je mehr die Schwestern sie mit ihren selbstgefälligen
Gewissenlosigkeiten peinigten und sich mit ihrer seichten
Wohlerzogenheit und ihrem Bildungswortkram vor ihr
brüsteten." Der Amtmann wurde immer spitzer im Gesicht,
und sein Zeigefinger spießte seine Worte gleichsam auf.
"Der Heinz aber -" wollte er fortfahren; doch plötzlich
schnellte der Buchhändler auf ihn los, als ob es ihm auf seinem
Stuhl zu heiß geworden wäre. "Höre mal, erlaube mal, nimm
mir's
nicht übel!" überstürzte er sich und würgte die Worte
heraus
wie etwas Bitteres, das ihm schon lange auf der Zunge brannte:
"aber wirklich, es scheint, du willst hier gegen die Bildung
sprechen! Und die Schwestern - na ja: da bist du doch auch blos
Partei und hast dir das alles zusammenclaviert!" Und dabei sah
er den Erzähler mit würdevoller Entrüstung, doch gleichsam
abbittend an.
Durch des Amtmanns verwitterte Züge flüchtete ein
schwaches Lachen, halb spöttisch, halb grimmig. Dann sagte
er trocken: "Die Bildung geht ihren eigenen Gang. Ich erzähle
ja blos. Und die Bildung, die Du wol meinst, wird darunter nicht
leiden! - Uebrigens könntest du endlich deinen Schnabel halten,"
setzte er freundlicher hinzu, den zweiten Vorwurf nicht beachtend;
worauf sein kritischer Zuhörer sich achselzuckend beruhigte.
"Also was ich sagen wollte - ja! der Heinz aber wähnte, und
das ließ er sich nicht ausreden, daß seine Schwestern es mit der
Marie ebenso ehrlich vorhatten, wie mit ihm, und daß sie blos
den rechten Ton zu ihr verfehlten. Und darum hatte er, Tags bevor
er zu uns fuhr, einen Versuch gemacht, ihnen eine Vorstellung
von den Eigenschaften seiner Braut zu geben.
Aber Die hätte wol ein Engel vom Himmel nicht belehren
können, so durchdrungen waren diese drei Gebildeten von
dem Bewußtsein ihrer Weisheit und Unfehlbarkeit; und wenn
sie einmal einem Andern im Gespräch das Wort vergönnten,
so geschah es höchstens, um sich auszuruhen und alsdann mit
frischer Lunge ihr altes Geträtsche noch breiter zu trätschen - wie
Hunde, die in Einem fort ihr eigenes Echo anbellen.
Und so hatten sie denn auch dem Heinz nur immer mit
denselben Lobpreisungen und Bedauerungen über die Marie
erwidert; bis er endlich wütend aufgesprungen war und ihnen
drohend befahl, das Mädchen überhaupt nicht mehr mit
Redensarten zu behelligen.
Das flößte mir nun gleich schon damals eine unklare Besorgnis
ein; und ich machte ihm auch, so sauer mir's ankam, einige
Einwendungen gegen seine Schwestern. Er achtete aber nicht
darauf, und schließlich gab er mir ganz kurz zur Antwort,
und mit einem merkwürdig mißtrauischen Blick, er wüßte,
wie gut sie's mit ihm meinten. Und als ich eine Andeutung
fallen ließ, ob es nicht besser wäre, wenn die Marie bis zur
Hochzeit wieder her auf unser Gut zöge, wies er das noch
einsilbiger zurück; und dabei flog durch seine Augen so ein
böser, funkelnder Schein, daß mir däuchte, er habe mehr aus
mir herausgefühlt, als ich selbst mir dazumal gestehen mochte.
Allsodaß ich mich nicht recht getraute, weiter in ihn zu dringen,
und es erleichtert hinnahm, als er mir aufeinmal einen schnellen,
wortkargen Abschied bot.
Und dann" - der Amtmann nickte trübe vor sich hin
- "ja dann vollzog sich eben das Unvermeidliche an ihr;
wie an einer jungen Pflanze, die in ein feindliches Erdreich
gesetzt wird.
Damals freilich war ich noch zu unreif, all das Unheil zu
durchschauen, und verschloß mich wol sogar gegen meine
Ahnungen, und betrog mich mit der Hoffnung, daß der
Widerspruch der Schwestern vor der Sprache der Natur
doch am Ende würde verstummen müssen. Wie ja auch
die Hunde ihr Gekläff einstellen, wenn sie ihren Unverstand
bemerken. Denn daß wir Menschen allemal in unsre
Unvernunft verliebter sind als das liebe Vieh, das hab
ich erst verdammt allmählich einsehn lernen", schloß er
bissig seine Abschweifung.
"Ja - also - ich kundete aber doch verstohlen ab und zu
die Leute aus, die etwa so vom Dorf zu uns herüberkamen,
wie's dort drüben stände. Denn das absonderliche
Liebesverhältnis war natürlich bald ruchbar geworden
und wurde viel betuschelt und bezischelt, wenn es auch
bezeichnend war, daß niemals eine ungezieme Rede über
die Beiden geführt wurde. Sonst indessen konnte ich
zunächst aus Allem nur entnehmen, daß die Marie noch
immer in ihrer unzugänglichen Rastlosigkeit beharrte,
während der Heinz immer verdrossener und verdüsterter
wurde und oft Tage lang auf seinem Zimmer brütete
oder einsam im Walde herumstrich.
Die Schwestern nämlich hatten sich mit seinem Befehl,
die Marie in Ruhe gewähren zu lassen, scheinbar völlig
ausgesöhnt; und nach Allem, was sie schon erreicht hatten
durch ihre Anschläge, mochten sie im Stillen wol sogar
erfreut davon gewesen sein. Denn da die Aermste ihren
Bedrängerinnen je länger je stiller nachgab und auswich,
so erkannten sie gewiß, daß sie vor dem Heinz sich auf
die Dauer und ohne Nachteil doch nicht würden behaupten
können in ihrer augenfälligen Verfolgung. Und obenein
empfanden sie wol eine Art von Furcht vor der schüchternen
Tapferkeit des Mädchens, die ihnen um so unbehaglicher
sein mußte, als sie sich in ihrer natürlichen Herzensarmut
und angenommenen Aufgeblasenheit keinen rechten Vers
daraus zu machen wußten.
Denn auf diese gewöhnlichen Seelen wirkten überall
und immer nur die Unvollkommenheiten ihrer Mitmenschen.
Und indem sie die nach ihrer eigenen Natur auslegten,
schöpften sie aus solcher Uebersetzung fremder Schwächen
ins Gemeine die sichersten Gifte der Gegenwirkung - und
meinten wol noch gar, sich mit Fug und Recht gegen die
hochmütigen Absichten einer verstockten, bettelstolzen
Dirne zu wehren.
Und so verfielen sie darauf, in ihrer und des Bruders
Gegenwart eine wehleidige Niedergeschlagenheit zur
Schau zu tragen und sich mit gepreßten Seufzern als die
ganz Zurückgesetzten und Geduldeten aufzuspielen und
bei Allem, was sie mal Besondres wollten, zu bemerken:
wenn es nicht den Wünschen des Fräulein Braut zuwiderwäre.
Die Hochzeit aber hintertrieben sie von einem Monat zum
andern, indem sie selbst die Beiden mit verleidender
Aufdringlichkeit darüber zu befragen pflegten und sich die
Ehre nicht nehmen lassen wollten, die Aussteuer der künftigen
Gutsherrin schwesterhändig zu besorgen. Wobei sie dann
natürlich gleichfalls nicht verfehlten, allerlei Vermutungen
über ihr eigenes Schicksal nach vollzogner Heirat einzuflechten.
Das erfuhr ich freilich meistenteils erst später. Aber einzig
so geschah es, daß sich die Marie mit ihrer stummen
Geschäftigkeit gleichsam wie mit einer Schutzwehr umgab
und sich, so weit es nur anging, zum Gesinde hielt, das ihr voll
gutmütiger Teilnahme ihre Eigenheiten nachsah und sich ihrer
Tüchtigkeit unwillkürlich beugte. Und die wie eine Sommerwolke
leicht und schwebend von uns fortgezogen war, unser
Herrgottskäferchen, die schwankte nach und nach so blaß
und trüb und matt dahin, daß man sie dort bald nach einem
hergebrachten Volksvergleich nicht anders als die Waise nannte.
Und der Heinz in seiner unstäten Laschheit schien sich
vergebens den Kopf zu zergrübeln über die Umwandlung
ihres Wesens oder eine Rettung aus dieser Not.
Und als nun dergestalt die Schwestern sie einander immer
mehr entfremdet und das Mädchen immer scheuer und ihren
Bruder so mürbe gemacht hatten, daß er schon merken ließ,
sie hätten wol in Manchem nicht ganz Unrecht, da nahmen
sie die Zeit wahr, ihn mit kräftigeren Listen zu bearbeiten.
Es verbreitete sich nämlich das Gerücht in der Gegend,
die Geschwister wollten ihren Hof verkaufen. Ob dies nun
die Schwestern hinterrücks mit Hilfe des Verwalters in
Umlauf gesetzt oder ob sie den Heinz durch neue Sticheleien
über die Gemütsart seiner Braut und die Unzuträglichkeiten
einer gemeinsamen Wirtschaftsführung gewissermaßen von
selbst auf den Gedanken gebracht hatten: jedenfalls, nach
seiner Art, wird er ihn wol unbesehn wie einen Wink des
Himmels begrüßt haben. Und dann hat er sich gewiß mit
blindem Willen wie ein Maulwurf in den Plan hineingewühlt,
ohne auf Umstand und Wirklichkeit zu achten und ohne zu
prüfen, ob er Ziel und Wege nach dem eignen Nutzen richtete
oder sich von Andern sanft in eine Falle locken ließ.
Denn sosehr ich damals selber alles Gute von dem Vorhaben
hoffte, so fest steht mir heute, daß es seinen Schwestern nun und
nimmer ernst damit gewesen ist, sondern einzig und allein darum
zu thun war, den Heinz aus dem Gehege zu schaffen und völlig
freie Bahn für ihre herrschsüchtigen Ränke zu gewinnen.
Genug, es war Anfang Dezember desselben Jahres, als es
plötzlich hieß, er sei mit dem Verwalter in die Hauptstadt gereist,
um die nötigen Unterhandlungen über den Verkauf des
Gutes einzuleiten.
Es wurde aber zugleich von einem erschütternden Auftritt
erzählt, der sich bei seiner Abreise ereignet hatte." Der Amtmann
hielt inne und drückte die Fingerspitzen an die Schläfen, wie wenn
er sich zum Gleichmut zwingen wollte. "Ja, es war zum Grauen!"
sagte er mit fast erstickter Stimme, als hätte er es selbst mitangesehen
oder jahrelang in seiner Erinnerung gleich einem Erlebnis überdacht
und ausgestaltet.
"Ja - also - der Heinz hatte schon von Allen Abschied genommen
und wollte eben aus der Hausthür treten, als die Marie, die bis dahin
ganz ruhig gewesen war, auf einmal ins Wanken kam und über die
Schwelle hin ihm nachstürzte und sich an seine Füße hängte
und
schluchzend und jammernd immerfort nur seinen Namen schrie.
Und als er sie emporzog und zu trösten suchte, flehte sie ihn mit
gebrochnen Lauten an, er solle sie nicht verlassen; und wenn er
ihrer überdrüssig sei, nur ein "lütt, lütt Woort"
solle er dann
sagen, und sie wolle selber gehen; sie sei ja nur ein armes Weib,
ein armes Weib, stammelte sie vor sich hin, und dabei sank sie
wieder, in die Kniee knickend, aus seinen Armen auf die Erde.
Der Heinz aber habe wie entrückt seine Hand auf ihren
Scheitel gelegt und sich hoch und teuer verschworen, daß sie
ihm das Liebste wäre und in seinem Schutze stände und niemals
an ihm zweifeln dürfte. Und mit glühenden Augen um sich
sehend, drohte er Jeden erwürgen zu wollen, der ihr etwas Leides
anthun würde. Dann hob er sie von Neuem zu sich in die Höhe
und küßte sie mit feierlichem Munde und versicherte, daß er
nur um ihretwillen von ihr gehe und in wenigen Tagen
zurückkehren werde; und die Dorfleute verwunderten sich
nachher, daß die Beiden gar nichts miteinander über diese
Dinge beraten hatten. Es sagten aber Alle, die dabei gewesen
waren, daß ihnen bei den Worten des Heinz ein Bangen
angekommen sei wie in der Kirche, und sogar die Schwestern
hätten sich vor seinen Blicken abgewandt.
Die!" knirschte der Amtmann, und die Andern hörten,
wie sich seine Zähne aufeinander drückten.
"Ja - und die Marie -" preßte er mühsam heraus,
"die Marie, gefaßt und ruhig wie zuvor, als hätte seine Rede
sie gefeit, hat sich sanft von ihm losgemacht - und ein leises
Lebewohl gesagt - und - mit zuckenden Lippen - ihm noch
einmal zugenickt; ja, und dann - dann haben sie sich - nicht
wiedergesehen."
Die Zuhörer schauten überrascht und fragend den wunderlichen
Erzähler an, der ihrer zu vergessen schien. "Ja richtig! ihr
könnt
ja nicht wissen", erinnerte er sich und hob mit tiefem Atemzuge
die vorgesunkenen Schultern zurück.
"Ja: es vergingen nämlich nicht Tage, sondern Wochen,
ohne daß der Heinz mit seinen Absichten zu Rande kam.
Denn dazumal, vor den siegreichen Kriegen, war es nicht
so leicht, ein großes Habtum unter annehmbaren Bedingungen
loszuschlagen, wie in unsrer unternehmungswütigen und
kauflustigen Zeit. Und obenein war der Heinz, bei seiner
Unerfahrenheit in jeglichem Geschäft, gänzlich in die Hand
des Verwalters gegeben, der gegen das Mädchen auch wol
nicht die freundlichste Gesinnung hegte. Und wenn ich auch
nicht annehmen mag, daß selbiger bewußt und überlegt an
Einem Strange mit den Schwestern zog, so weiß ich doch
nach Allem, was ich später von ihm selbst ausforschte, daß
sie ihm in Hinsicht auf den Abschluß des Verkaufes genaue
Weisungen gegeben hatten, die zum mindesten eine rasche
Erledigung der Sache unmöglich machten. Und da auch seine
eigne Stellung auf dem Spiele stand, so wird er sich des Auftrags
eben noch saumseliger angenommen und den versessenen
Eifer seines Herrn unmerklich blos zu einer sehr willkommenen
Erholungsreise ausgebeutet haben.
Die Schwestern aber, je näher sie auf diesem Wege die
Erfüllung ihrer Wünsche rücken sahen, um so mehr verbissen
sie sich noch, naturgemäß, in ihre Feindseligkeit; und je passer
ihnen die Umstände zu Hilfe kamen, desto mehr verhärteten
sie sich in ihrer dummstolzen Bosheit und Niedertracht. Und
hatten sie das Mädchen bis dahin blos heimlich gequält, so
schlug jetzt ihr Gethue in offenbaren Hohn um; allsodaß die
Wehrlose sich in Kurzem ganz und gar zu den gedungenen
Mägden hielt.
Und nun beklagten sie sich vor dem Bruder in häufigen Briefen
über die Verschlossenheit und unverwandtschaftliche Kälte der
Marie, während Diese umso ängstlicher vermied, ihr Verhältnis
zu den Schwestern vor ihm zu berühren, und in blindem Vertrauen
auf seine Abschiedsworte das Schreiben lieber ganz einstellte,
zumal sie überhaupt nicht sehr bewandert mit der Feder war. Ja,
nachmals hat mir der Verwalter den letzten Brief an ihren Bräutigam
gezeigt, worin sie ihn mit ungelenken Worten bat, doch Geduld
mit ihrer "Neddertracht" zu haben und sie nicht "so swer"
mit
Fragen zu bedrängen. Die Schwestern freilich ließen sich's nur
um so angelegener sein, ihn mit ihrem Geschreibe zu verstören.
Und so kam das Weihnachtsfest, und der Heinz hatte immer noch
nichts ausgerichtet in der Hauptstadt; und es hieß, er werde schwerlich
vor der zweiten Woche des neuen Jahres zurückkehren.
Damals war in unsrer Gegend noch die fromme Sitte heimisch,
daß die Herrschaft den Christabend gemeinsam mit den Leuten
feierte; und auch die Schwestern hatten es, trotz ihrer
Aufgeklärtheit, noch nicht recht gewagt, mit diesem
ehrwürdigen Brauche zu brechen."
Die Stimme des Amtmanns zitterte vor Erbitterung.
"O es war viehisch," fuhr er außer sich auf, "wie sie das
Fest
der Liebe mißbrauchten!
Also - ja -" er bezwang sich - "das ganze Gesinde war
versammelt zur Bescherung, und die Frau des Verwalters
dazu, und der Baum brannte schon, und Allen schon hatten
die Schwestern einen Platz am Weihnachtstisch und ihren
Teller angewiesen; nur die Marie stand noch immer abseits
von der Freude der Andern und starrte unbeachtet auf die Diele,
sodaß es plötzlich stille wurde in der Stube und die Leute betreten
bald ihre Herrschaft, bald das Mädchen musterten. Darauf aber
schienen Jene blos gewartet zu haben, und während Jeder sah,
wie die Bestürzte mit Thränen kämpfte und abwechselnd rot
und blaß wurde, schritt die Jüngste von den Schwestern
plötzlich
auf sie zu, und griff sie lachend beim Handgelenk, und zog sie
ans andere Ende des Zimmers, wo auf einer Hutsche die Postkiste
stand, die der Heinz seiner Braut aus der Stadt geschickt hatte.
Oben drüber aber hatten die Dreie eines ihrer schon getragenen
Seidenkleider ausgebreitet, und das boten sie dem armen
Geschöpfe, das vor Schimpf und Scham zu vergehen meinte,
zum Christgeschenk und als ein Stück der Aussteuer; sie würden's
aufarbeiten lassen.
Und die Qual dieser Augenblicke und die Wehmut der
heiligen Stunde und all der stumm verwundene Gram der
vergangenen Wochen haben da wol auf Einmal dies zermarterte
Herz überwältigt, und in der Verzweiflung der Demut hat sie
sich niedergeworfen vor ihren Peinigerinnen, und hat sie um
Erbarmen angefleht, und hat ihnen jeden Gehorsam versprochen
- nur Erbarmen sollten sie üben - und hat sich losgesagt von
ihrer Liebe - sie sei ja nur ein armes Weib; und über ihr, aufrecht,
standen die Schwestern und horchten nickend ihren Jammer an,
wie Richter, die ein Geständnis abnehmen, und belehrten sie noch
über ihre Fehler, die Schamlosen, und belobten sie mit
Gnadenmienen, daß sie endlich zur Einsicht gelangt sei. Und
während das Gesinde murrend aus der Thür schlich vor diesem
Schauspiel schmachvoller Eitelkeit, lag sie den Menschern noch
immer zu Füßen, stammelnd und wimmernd, sie sei ja nur ein
armes Weib, ein armes Weib, als gäb' es für sie blos dies eine Wort,
all ihre Not und Ohnmacht zu begreifen."
Des Amtmanns Sprache wurde immer schwerfälliger, und
man sah, daß es ihm Anstrengung kostete, seine Ruhe zu
bewahren. "Een arm Wiew!" wiederholte er für sich, die Worte
gleichsam stöhnend. "Aber diese Frauenzimmer" - stieß er
zornig
heraus - "wußten wol von Damen und Herren - und Knechten
und Mägden, ja! Aber was wußten Die von Mann und Weib?!"
Den Erzähler faßte ein Ekel und er spie auf die Erde.
"Ja - also - die Geschichte ist bald zu Ende", suchte er
sich zu beschwichtigen. "Also - nach jenem Abend sind sie
der Marie scheinbar nicht weiter in den Weg getreten; und
diese hat sich an den folgenden Tagen ratlos und rastlos von
Arbeit zu Arbeit geschleppt, ihre letzten Hoffnungen - denk' ich
mir - an die Rückkehr ihres Bräutigams hängend.
Inzwischen aber, am ersten Weihnachtsmorgen, hatten die
Schwestern dem Heinz einen Brief geschrieben, worin sie ein
trügerisches Spiel mit der Wahrheit trieben - das heißt, nein,
ich will ihnen nicht Unrecht thun - vielleicht haben sie sich's
wirklich eingeredet - also kurz: sie beriefen sich darin auf
das Zeugnis der Verwalterin und des ganzen Gesindes, daß
die Marie - - ihn nicht mehr liebe. Und zugleich schmeichelten
sie ihm, daß er das schon längst, gleich ihnen, selbst erkannt
haben würde, wenn er sich in seiner blinden Treue und
Ehrenhaftigkeit nicht mit Vorsatz dagegen verschlossen hätte.
Und der Heinz -" der Amtmann rang nach Worten,
"der Heinz - ob er sich das nun in seinem eigenen phantastischen
Gehirn zurechtgebrütet hat, um ihre Treue zu prüfen, oder ob
die drei Nattern ihm auch Das heimtückisch eingezischelt
haben: der Heinz, dieser Unglücksnarr, in seiner blödherzigen
Unsinnigkeit hat er sich hingesetzt und hat dem Mädchen
geschrieben, er entbinde sie ihres Schwures, wenn sie glaube,
sich in ihm getäuscht zu haben."
Der Amtmann sprang vor übermächtiger Erregung plötzlich
auf, sodaß der Wirt ihn erschrocken anblinzte und sich schützend
die Hände vor den Leib hielt. Aber es lachte diesmal Keiner.
Nur der Sand auf der Diele knirschte; laut und hart. Der Sprecher
trat an den Ofen, in den dunklen Hintergrund des Zimmers;
vielleicht war er auch blos Deßhalb aufgestanden.
"Ja - und die Marie", fuhr er beinahe flüsternd fort,
"zwei Tage vor Sylvester hat sie den Brief erhalten, als sie
grade auf der Tenne Korn zum Dreschen an die Leute ausgab.
Da hat sie ihn mit zitternden Fingern erbrochen, und aufeinmal
ist sie lakenweiß geworden und hat mit einem krampfigen
Ruck sich vor die Brust gegriffen und leise klagend ihr Kinn
auf die Forke gestützt. Sie wollte sich wol aber vor dem andern
Volk bezwingen, denn sie richtete sich gleich darauf jählings
ganz und gar in die Höhe; aber ermattet von Kummer und
übermäßigen Anstrengungen, hat sie's nicht ausgehalten, und
mit den Armen hoch in die Luft schlagend ist sie ohnmächtig
auf das Stroh zusammengesunken.
Dann haben die Dirnen sie auf ihr Kämmerchen ins Bett
geschafft und haben die Schwestern gerufen und ihnen den
Brief gegeben, weil sie wol hofften, ihr Gewissen damit zu
rühren. Auch haben sich die Drei zuerst sehr wehleidig angestellt;
da indeß das Mädchen bald wieder zu sich kam, beruhigten
sie sich und meinten beim Weggehn, es werde schon alles
zum guten Ende gedeihen. Die Marie nämlich hatte erklärt,
sie fühle sich wieder ganz wohl; und dabei sollen ihre Backen
so frisch und rot geleuchtet haben, wie in der ganzen letzten
Zeit nicht. Und nachdem sie den Brief wieder an sich
genommen, bat sie mit flehendem Lächeln, man möchte
sie allein lassen; und dann - ist sie in tiefen Schlaf gefallen."
Der Erzähler stockte einen Augenblick. "Und während sie
schlief" - seine Stimme klang hohl und rauh, als spräche er mit
jedem Worte eine Anklage - "während sie schlief, ist Eine
von den Dreien in ihre Kammer geschlichen, und hat das Bild
des Heinz, das unter einem Immortellenkranz zu ihren Häupten
an der Wand hing, herabgenommen und an dessen Stelle jenen
Brief gehängt, und drüber - einen Kranz von Heu! Denn so fanden
es am andern Morgen die Leute.
In der Nacht aber - die Marie - ja - sie wird's eben
entdeckt haben, und der gräßliche Hohn hat sie von Sinnen
gebracht, und da ist sie hinausgelaufen und hat in den Bach
springen wollen. Ja: eine alte Frau aus dem Dorfe hat sie
gesehen, wie sie in ihrem weißen Unterkleid am Ufer herumirrte,
und hat gemeint, es wäre ein Gespenst. Es mag sie aber doch
gegraut haben vor der Sünde und dem eisigen Wasser, und so
ist sie umgekehrt, und am andern Tage - in der Frühe - fand
man sie - am Hofthor lag sie - tot. Da wird wol eine neue
Ohnmacht über sie gekommen sein, und dann ist sie in der kalten
Winternacht verklamt. Freilich, die Leute sagten nachher, sie
sei an gebrochenem Herzen gestorben; doch erklären ja die Aerzte,
daß Solches nicht möglich sei.
In der rechten Hand aber hielt die Leiche etwas fest
umklammert; und als man ihr die starren Finger auseinanderbog,
fiel ein kleines schwarzes Pelzfleckchen in den Schnee."
Die Stimme in der Ecke verstummte, und die kleine Gestalt
am Ofen stand eine Weile regungslos, und Keiner schien zu
atmen. Dann knirschte der Sand auf der Diele unter langsamen,
mühsamen Schritten, und der Amtmann ließ sich wieder in
das Sopha sinken. Auf seiner breiten Stirn lag der Schweiß
jetzt so dicht wie ein Schleier von Tau, und die Aderstränge
seiner sehnigen Hände waren noch dicker als sonst.
"Teufel!" sagte er heiser; "und ich dachte, daß ich's ganz
verwunden hätte." Er wiegte grübelnd den Kopf.
"Lange genug ist's her, seit wir sie begraben haben",
fügte er weicher hinzu, mit einer schlichten Ergebenheit im
Ausdruck. "Ja, ich war auch hinübergefahren, ihr die letzte
Ehre anzuthun. Es war ein stolzes Leichenbegängnis, das die
Schwestern zugerüstet hatten, und wol das ganze Dorf war
mit auf den Kirchhof gezogen. Und unter den Weibern war
gewiß keine, der nicht die Thränen ins Auge schossen, als der
Heinz wie zerbrochen dem Sarge nachwankte. Und als er
stieren Blickes an die Grube trat, um die erste Erde
hinabzuschütten, und dabei zusammenknickte und den
Schollen nachgestürzt wäre, hätte ihn der Totengräber nicht
zurückgerissen: da ging ein Schauder durch die ganze Versammlung.
Blos die Schwestern standen thränenlos - unbewegt - wie
versteint - und -" der Amtmann hielt gewaltsam an sich - "ja, und
hatten ihn doch sehr lieb!"
"Ja! ich will ihnen nicht Unrecht thun", beteuerte er heftig.
"Aber ich hab's gesehen", keuchte er, "wie über das
vertrocknete
Gesicht der Aeltesten eine finstre Freude kroch, als sie sich bückte,
um der Toten auch 'ne Hand voll Erde nachzuwerfen. Ich
hab's - gesehen!" stieß er die Arme von sich und preßte die
Daumen auf die geballten Finger, als wollte er etwas zerquetschen.
"Ja!" wiederholte er, sich mäßigend: "und hatten ihn
doch sehr
lieb - -." Er senkte das Kinn auf die Brust und verstummte.
Es war wieder ganz still in der Stube; man hätte die Atemzüge
zählen können, und des Amtmanns letzte Worte schwebten in
dem Raum wie eine rätselhafte Frage.
Bis der Förster mit der Faust auf den Tisch schlug.
"Hol der Maulwurf alle Spinnen!" fluchte er gerührt,
während
der Wirt achselzuckend die Handflächen aus einander breitete
und gewichtig dazu nickte, als wollte er in Gnaden den Lauf
des Schicksals bestätigen.
Den Buchhändler aber ließ seine Neugier nicht ruhen,
und indem er seinen Freund sacht am Aermel faßte, fragte
er gespannt: "Und der Heinz?"
"Der?" erwiderte der Amtmann fast hart, "der ist erst
schwachsinnig und dann tobsüchtig geworden. Und da er im
Wahnsinn einen Mordversuch auf seine älteste Schwester
verübte, haben sie ihn ins Irrenhaus gebracht, wo er gestorben ist."
Der Buchhändler war bei diesen Worten erschrocken
zurückgewichen und verhielt sich einige Minuten ruhig. Es
mußte ihm indessen an der Geschichte seines Freundes wol
noch immer etwas fehlen oder nicht gefallen; denn er machte
bald aufs neue ein unbefriedigtes Gesicht und rutschte ungeduldig
mit den Armen hin und her. "Und die Schwestern?" fragte er
endlich kleinlaut.
"Die Schwestern?" gab der Amtmann unwirsch zurück.
"Ja - ich habe nach etlichen Jahren, als mein Vater und mein
Bruder an der Cholera starben, unser Gut da oben verkauft;
und hier unten in der Mark hatt ich mehr zu thun, als mich
um deren Wohlergehn zu kümmern. Doch hört' ich sie, vor ein
paar Monaten, so gelegentlich, von einem Pfarrer aus der Gegend,
als fromme Wohlthäterinnen rühmen."
Dem Buchhändler schien die Art, wie sein Freund heut
erzählte, garnicht zu behagen, wenn er auch keine weiteren
Einwendungen von sich gab. Dem Wirt aber fiel etwas Wichtiges
ein, nach seinen Geberden zu schließen; denn er ließ die
Unterlippe hängen, wie ein Eierkuchen übern Rand der Pfanne kippt.
"Die Herren haben ja ihr Bier ganz warm werden lassen!"
stöhnte er vorwurfsvoll, indem er sich erhob.
Richard
Dehmel . 1863 - 1920
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