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Richard Dehmel
Aber
die Liebe! . 1. Auflage 1893
Gewissen
Wir
gingen die Wurzeltreppe des Hügels hinab, zehn zwölf Mann; oben lag
die Försterei im dicken Schnee. Die Teckel hielten sich, vor Frost
humpelnd, sorgsam hinter uns im festgetretenen Wege. Die klare Kälte
machte Alle stumm; der Schnee verschluckte das Geräusch der Schritte. In
dem rauhen Reif der Birkenreiser fingerte die Morgensonne; die starren
Nadelbärte der Kiefernschonung sträubten sich aus ihren weißen
Pelzen. Es sollte ein Dachs gegraben werden. Ich weiß nicht, mir kam der
liebe Gott in Sinn.
Die Hunde gaben plötzlich Laut; Rädergeklapper kam. Um die Ecke aus
dem Schleifweg bog die alte Semmelfrau vom Dorfe drüben, auf ihrem
Köterkarren hockend; ein schußscheuer Jagdhund zog ihn, der einem
Nachbarförster aus der Art geschlagen war. Unsre Teckel keifend auf ihn
los. Der Hochbeinige weiß nicht, was er dazu sagen soll; den Schwanz
eingeklemmt, setzt er sich in Trab. Die Kleinen blaffen lustiger; er begreift,
und alle Schwänze in die Höh' stiebt die wilde Jagd, schneeumspritzt,
bellend und belfernd den Weg hinunter, die falsche Richtung für die gute
alte Frau, die scheltend und jammernd auf dem stuckernden Wagen mit beiden
Armen ihre Semmelkiepe umklammert hält. Wir, lachend, hinterdrein mit
langen Sätzen; am Bahndamm unten holen wir sie endlich ein. Die Teckel
drücken sich beschämt zu ihren Herren, wir lohnen die Alte ab. Und
ich denke wieder an den lieben Gott.
Schwitzend schreiten wir weiter. Der Schnee fängt an zu blenden und den
Augen weh zu thun; die Bahnschienen flimmern. Von der andern Seite her taucht
funkelnd ein Flintenlauf über den Damm, eine wohlbekannte Mütze aus
Otterfell. "Der Nachbarförster", sagt Jemand scheu; Einer wird
blaß wie der Schnee. Jetzt steht der Alte oben, straff, im grünen
Galastaat, die nackte rote Faust auf der Krone des Hirschfängers. Sein
grauer Kinnbart perlt von Eis; die große Hakennase wirft einen Schatten
über die Backenfurchen bis zum Ohr, suchend brennen seine dunkelblauen
Augen. "Komm her!" ruft er heiser. Der Blaßgewordene gehorcht;
sie stehen mitten auf dem Damm, im stechenden Licht. "Zieh den Handschuh
ab!" höre ich mit Grauen, fühlend wie der Alte sich beherrscht.
"Wo hast du den Ring?" fragt er drohend; keine Antwort. Der Alte
zittert; seine Finger spannen sich um den Hirschfängergriff, ein Ruck -
die Schneide blitzt. Bis zur Hälfte; auflachend, qualvoll,
stößt er sie zurück. Mit unsäglicher Verachtung speit er
in den Schnee, zum Gehn gewendet. "Vater!" schreie ich und
stürze in die Kniee. Er geht.
Ein Krampf schüttelt mich. Meine starren Augäpfel sehen mich zucken;
in weiter Ferne. Sausend peitschen schwere Kiefernzacken mit spitzen
Büscheln gegen meine Stirne. Sie verwandeln sich, Stechpalmenzweige
rauschen hin und her durch mein Gehirn; ich sehe, wie die roten Beeren lange
Curven durch die graue Masse reißen. Aber eine weiche Hand legt ihm immer
wieder, schmeichelnd, ihre Finger durch die Haare; die gepreßten
Zähne lösen sich; er liegt zu ihren Füßen, den Kopf in
ihren Schooß gedrückt. Sie läßt sich in den Lehnstuhl
gleiten; das ferne Rot des Frühlingsabends vergoldet ihre braunen
Flechten. Auf meinem Schreibtisch neben ihr steht ein zartes venezianisches
Kelchglas, purpurzart, ein Lilienkelch, golddurchrieselt, und ein meergrün
schillern des Schlänglein ringelt sich darum empor. Drin starrt ein
Stechpalmenblatt, und eine blendende Narzisse. Die hat sie mir eben gebracht;
die keusche Blüte berauscht mich.
"Gieb mir den Ring!" schmeichelt sie. "Ich kann nicht",
fleht er mühsam; und ich höre, wie er ihr mit dunkler Stimme die
Geschichte des Ringes erzählt. Den hat der Urgroßvater seines
Vaters, der Husarenwachtmeister, nach der Schlacht von Torgau für seine
Tapferkeit und lange Treue aus des alten Ziethens eigner Hand empfangen, und
vielleicht sogar vom großen Friedrich selbst. Er betrachtet das
gepreßte Eisenbild des Königs in dem dünnen goldnen Reifen;
"und immer der Aelteste erbt ihn". Ich höre seine Worte wie im
Traum; es ist, als ob ich sie in einem Buche lese. "Gieb mir den
Ring!" schmeichelt sie. Er kämpft mit sich. "Hast du
Gewissensbisse?" flüstert sie; "Du -?"
Will sie mich verspotten? meine Zähne drohen an den Knöcheln ihrer
Hand. Sie nimmt sie lächelnd vom Knie und hält mir die Narzisse an
die Lippen. Ich schlürfe den Geruch und erinnere mich; "Du hast ihn
ja schon", blicke ich auf ihre Finger. "Den andern", schmeichelt
sie; "den Ring der Andern!" Ihre grauen Augen werden immer dunkler.
Ich fühle ein heftiges Zittern. Meine Blicke beugen sich auf den Rubin an
meiner Rechten; er perlt wie Blut aus einer frischen Wunde. "Gewissen ist
der Spuk des toten Gottes", raunt sie meine Sprache nach, mir den Ring
abstreifend, und erhebt sich. Ich will es ihr erklären; sie entschwebt.
Ich will ihr nach; meine Kniee winden sich, gebannt, am Boden. Ich suche das
Wort, dann bin ich frei.
Ich stammle Verse - lange, flehende Zeilen; sie verliert sich immer ferner in
die Nacht. Ich sehe sie verglimmen; nur der blutende Rubin glüht noch
durch das Mondlicht. Nein, die Wunde; der tote Freund mit seiner Geige kommt.
Er spielt zu meinen Versen - ferne, flehende Töne - und von dem
Mädchen, das ihm untreu war. Die runde Wunde seiner Stirne thut sich auf;
Ton um Ton perlt Tropfen um Tropfen aus der kleinen tiefen Oeffnung dunkel
nieder in den Schnee, die blasse Schläfe nieder. Immer näher schwebt
die rote Spur; die geschlossnen Augenlider zucken, bleicher als sein
Sterbehemd, und ich suche das Wort, das Wort - in unsrer Kindheit wußten
wir's.
Er schlägt die Augen auf, der Geigenbogen stockt, ein Schrecken würgt
mich: das sind nicht seine Augen! das ist "die Andre". Meine Finger
krümmen sich, an sein Gewand zu tasten; meine Blicke werden blind; meine
Zunge will sich regen - Rettung, das Wort! Ich sehe meinen starren Körper,
lange Ketten Verse pressen die gezerrten Glieder, ich lese und lese, mir graut.
Schwere Ringe ... und die
Meinung
leere Schlinge ... werbe,
werbe!
Dumpfe Kammer ... und das Erbe
- bringe Jammer - wird
Erscheinung.
Die Thür springt auf, Glockenschläge stürzen in mein Ohr, Licht
wie Nadelstiche scheint in meine Augen: auf der Schwelle steht meine Mutter:
mit unsäglicher Betrübnis sieht sie zu mir her. Meine Arme winden
sich nach ihr; vergebens. "Sünde an der Mutter deiner Kinder?!"
lese ich von ihren Lippen - "Mutter!" röchelnd ringt es sich von
meinen Lippen, laut, das Wort - ich bin wach.
Durch die dunkle Stube lag ein schmaler Streifen grelles Mondlicht quer bis auf
mein Bett gespannt; ich bebte ...
Wenn dich aus dem ersten Schlaf
um Mitternacht
dein rasend klopfendes Herz
aus deinen Träumen jagt,
furchtsam horcht dein Atem,
und sich durch dein ödes
Zimmer
weiße Schatten vor dir
flüchten;
kennst du dieses Grauen?
Wenn sich aus der hohlen Nacht
fern mit klagenden Augen
ein geliebtes Gesicht
aus den blassen Kreisen ringt
und sprechen will;
kennst du dieses Grauen?
Mit langen Händen
will es nach dir greifen
und dich erwürgen
für eine Schuld ...
Richard
Dehmel . 1863 - 1920
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