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Richard Dehmel
Schöne
wilde Welt . 1. Auflage 1913
Schöpfungsfeier
Oratorium natale
Chor der Ahnen
Welch ein Festtag! Wieder reihn sich Flammen,
wieder neigen Blumen sich zusammen,
Kind, weil du am Leben bist.
Kind, noch immer Kind, trotz deinen Jahren,
horch, ein Vatergeist will heut erfahren,
ob dein Herz dem Leben dankbar ist.
Der Vatergeist
Sieh, er fragt dich mit gebeugtem Rücken,
den die Schatten seiner Taten drücken,
doch mit ungebeugtem Sinn:
Denkst du noch an meine Züchtigungen,
harten Worte, strengen Forderungen?
wozu nahmst du soviel Trübes hin?
Und ich seh, du blickst auf deine Hände,
auf dein Festgewand, auf Tisch und Wände,
und du lächelst stolz und mild.
Ja, du lerntest dich zum Schaffen zwingen,
all das Wohlgefügte dir erringen,
das dich heut entzückt als helles Bild.
Aber dazu Jahre voller Plagen,
um ein Augenblickchen zu erjagen,
wo das Leben Glanz gewinnt?
Aber schon ergreift mich dein Entzücken,
dankbar hebt sich mein gebeugter Rücken:
dieser Augenblick ist göttlich, Kind!
Chor
Dieser Augenblick ist selbst dem Bangen
einer Mutterseele Dank genug.
Heut erscheint sie dir von Glanz umfangen,
die dich einst mit dunklem Lichtverlangen
unter ihrem Herzen trug.
Die Mutterseele
Voll Entsetzen hörte sie dich wimmern,
als man dir vom Körper wusch ihr Blut.
Zaghaft sah sie in verhängten Zimmern
dein klein Seelchen wie ein Flämmchen flimmern;
heut ist's eine große Glut.
Saaten Lichtes treiben in dir Sprossen,
überschwänglich flammt die Himmelsflur;
Welten hält dein freier Blick umschlossen,
strahlend zeigt er Freunden und Genossen
unsers Daseins ewige Spur.
Zwar im Nebel auf den irdischen Auen
tönt bald fern bald nah des Todes Ruf.
Doch Verklärung quillt aus seinem Grauen:
unsern Kindern bleibt der Himmel blauen,
den die Mutterseele schuf.
Ein paar Kinderstimmen
Deine Kinder sehn den Himmel gerne,
auch bei Nacht sein hohes helles Sieb;
aber mehr als Sonne, Mond und Sterne
sind uns deine Augen lieb.
Und so lieb und solche hellen Wunder
sind auch unsre Augen dir;
Sonne, Mond und Sterne sind nur Zunder
zwischen dir und uns, das fühlen wir.
Die Mutterseele
Immer heller wird uns angezündet
rings vom Vater Geist dies Flammenspiel.
Jede Kerze flimmert ihm verbündet,
jede Blume schimmert einbegründet
in sein glanzverhülltes Ziel -
Chor
in sein glanzverhülltes Ziel.
Der Vatergeist
Immer wieder lockt es die Entzückten,
bis die Mutter Seele den beglückten
Schöpfungsaugenblick genießt.
Weil wir's nie und immerfort erreichen,
tragen wir des Ringes heiliges Zeichen,
das von Hand zu Hand die Welt umschließt -
Chor
das die weltenvolle Welt umschließt.
Richard
Dehmel . 1863 - 1920
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