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Richard Dehmel
Weib
und Welt . 2. Auflage 1901
Die Harfe
Unruhig steht der hohe Kiefernforst,
die Wolken wälzen sich von Ost nach Westen,
lautlos und hastig ziehn die Krähn zu Horst,
dumpf tönt die Waldung aus den braunen Aesten,
und dumpfer tönt mein Schritt.
Hier über diese Hügel ging ich schon,
als ich noch nicht den Sturm der Sehnsucht kannte,
noch nicht bei euerm urweltlichen Ton
die Arme hob und ins Erhabne spannte,
ihr dunkeln Riesen rings.
In großen Zwischenräumen, kaum bewegt,
erheben sich die graugewordnen Schäfte,
durch ihre grüngebliebnen Kronen fegt
die Wucht der lauten und verhaltnen Kräfte
wie damals.
Und Eine steht, wie eines Erdgotts Hand
in fünf gewaltige Finger hochgespalten,
die glänzt noch goldbraun bis zum Wurzelstand
und langt noch höher als die starren alten
einsamen Stämme.
Durch die fünf Finger geht ein zäher Kampf,
als wollten sie sich aneinanderzwängen,
durch ihre Kuppen wühlt und spielt ein Krampf,
als rissen sie mit Inbrunst an den Strängen
einer verwunschnen Harfe.
Und von der Harfe kommt ein Himmelston
und pflanzt sich mächtig fort von Ost nach Westen,
den kenn ich tief seit meiner Jugend schon,
dumpf tönt die Waldung aus den braunen Aesten:
komm, Sturm, erhöre mich!
Wie hab ich mich nach einer Hand gesehnt,
die mächtig ganz in meine würde passen!
wie hab ich mir die Finger wundgedehnt!
die ganze Hand, die konnte Niemand fassen!
Da ballt' ich sie zur Faust.
Ich habe mit Inbrünsten jeder Art
mich zwischen Gott und Tier herumgeschlagen -
ich steh, und schmerzhaft reiß ich mir den Bart:
nur Eine Inbrunst läßt sich treu ertragen:
zur ganzen Welt.
Komm, Sturm der Allmacht, schüttel den starren Forst,
schüttelst auch mich, du urweltliches Treiben,
in scheuen Haufen ziehn die Krähn zu Horst,
gieb mir die Kraft, Einsam zu bleiben,
Welt!
Richard
Dehmel . 1863 - 1920
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