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Cäsar Flaischlen
Von
Alltag und Sonne . 1. Auflage 1898
Lotte. Eine Lebensidylle
"Es ist ein stetes Wunder-Erleben!
es ist ein stetes Rätsel-lösenwollen!"
Ein Jahr ..
ein ganzes Jahr nun ist es schon, daß du da
herumkrabbelst und uns anlachst aus deinen dunkeln Augen, wie eine große
Frage, verwundert und rätselhaft, als sollten wir dir Antwort geben, und
ohne daß du selber doch etwas erzählen könntest oder von dir
wüßtest oder daß wir mehr wüßten, als am ersten Tag
..
und wenn wir noch so gerne etwas herauslocken
möchten aus dem Geheimnis deiner kleinen Seele und wenn wir noch so gern
die Traumschleier lüften möchten, aus denen uns dein Leben
zulächelt und noch so oft "Guckguck!" und
"Gieb's-Händchen!" mit dir spielen ...
eine Frage .. das ganze Geschöpfchen! Niemand aber
wird sie lösen,
bis du sie selber lösest, wenn der Sonnenschein
dich so weit gebracht hat, daß es in dir auseinandergeht und sich
auffaltet, leis und heimlich, Blättchen um Blättchen, wie bei einer
Knospe, wenn Mai und Juni sie umschmeichelt ..
bis du aufwachst eines Morgens und dich in deinen
Kissen aufsetzt und über dich selbst erstaunt, neugierig in die Welt
lachst: Ja, da bin ich! die Lotte! und nun .. los!
Statt einer Frage aber sind es dann hundert und tausend
.. und jedes Wort und jeder Blick ist wieder eine neue!
und .. nur ein paar Monate noch vielleicht,
frühling- und mai-wärts! .. Aber du brauchst nicht zu eilen! und wenn
Vater und Mutter noch so gern dich früher wachküssen möchten,
ihre Namen von dir zu hören und Menschenfreude an dir zu haben ...
schlaf ruhig weiter noch ein Weilchen! schlaf ruhig
weiter noch in deinen Geheimnissen und Fragen! träume ruhig weiter noch in
deinen Rätseln und laß dich nicht wecken! ..
es ist Thorheit, zu frühe zu sein! .. es
erfüllt sich alles ganz von selbst zu seiner Zeit ..
ein Jahr ist es ja schon und das Leben vor dir ist noch
lang genug, weiß Gott! .. obschon es dir verränne, wie ein kurzer
Mai, wenn alles käme, wie man dir wünschte! wenn alles würde,
wie man dir gönnte!
Zehn Jahre später ..
und du bist ein großes Mädchen, gesund
rotwangig, mit blitzenden Augen im Kopf, mit langfliegenden Zöpfen und wie
deine Mutter heute dir Wiegenlieder vorsingt, so singst du sie deinen Puppen ..
und du gehst in die Schule, kannst längst schon
lesen, schreiben und rechnen, und bist fleißig und lustig und voll
Schelmerei und Ausgelassenheiten ..
doch
auf einmal auch befangen wieder und verlegen ..
schämig, scheu und schüchtern, als erschreckest du vor all dem
Wunderbaren, das sich um dich breitet und aus der eigenen Seele sich vor dir
enthüllt ..
leis und heimlich, wie das Frührot über die
Berge dämmert und die Sterne erblassen macht, drängt sich das Leben
draußen in deine stille Traulichkeit
und voll Furcht und doch voll Neugier wieder stehst du
in dem Tagwerdenwollen um dich her und mit immer süßerem Bangen
zittert dir das Wachwerden der Lieder durch das horchende Herz.
Von uns allen freilich, denen du jetzt die Aermchen
entgegenreckst, wird wohl keines mehr um dich sein. In alle Weltgegenden wird
es uns auseinandergetrieben haben .. wie gerade der Sturm kam .. südhin
und nordhin ...
Dein Vater aber erzählt dir dann und wann, wie es
gewesen, damals, als du auf die Welt kamst ..
wie wir bei einander waren ..
Sonntags ..
in der kleinen Balkonstube der Großmutter und
Schach spielten .. und Patiencen legten .. und Lieder sangen .. oder das Heil
der Zeit erwogen und große Reden redeten .. oder .. von Manuskripten
sprachen, die wir wieder einmal zurückbekommen hatten ..
immer lustig und vergnügt .. trotz allen Sorgen
und Enttäuschungen und Scherereien ..
und wie wir zusammen lebten .. gehetzt und vervehmt,
aber froher Hoffnung in der Zukunft, wie die ersten Christen in Rom, und
miteinander teilten, was wir hatten und uns Trost zusprachen und Glauben und
uns in unseren Idealen wieder bestärkten, wenn wir mutlos geworden waren:
uns durchzukriegen durch den Alltag lumpigen Lebenmüssens!
Und noch einmal zehn Jahre
und es sind tausend Wochen und du bist zwanzig ..
Du gehst nicht mehr in die Schule, spielst nicht mehr
mit Puppen, läßt nicht mehr die Zöpfe fliegen ..
du bist ein Fräulein geworden und trägst
lange Kleider ..
längst schon!
und hast einen kleinen Ring am Finger und sitzst und
nähst .. an deiner Aussteuer ...
Es ist Tag geworden .. In blendendem Goldglanz glomm
die Sonne über den Horizont und mit lauten Lerchenliedern jubelt es aus
deiner Brust ihr zu. In flimmernder Thaupracht blitzt der Morgen über das
erwartungsstille Thal .. die letzten Schleier der Nacht lösen sich von den
Hängen und in bebendem Verlangen treibt und drängt und quillt und
schwillt es ihm entgegen, mit tausend Knospen und Blüten - voll Furcht und
doch voll Sehnsucht geküßt zu werden und aufblühen zu
dürfen ..
Am Garten vorbei ziehn singende Burschen ihres Weges in
die Weite .. und bei deinen Weißdornhecken bleibt einer stehn und scherzt
zu dir herüber und schwingt sich über den Zaun und lacht und tollt
dir nach und faßt dich und küßt dich und du .. du
küßt ihn wieder .. selig, überselig ..
Und ihr sitzt vielleicht wiederum in einer Balkonstube
und kichert miteinander, oder ihr singt euch was am Klavier .. oder .. zankt
euch auch, wie Brautleute sich zanken: ob Kinder mit Strenge oder mit Güte
zu erziehen .. oder ihr beratet, wie das und jenes einzurichten wäre und
wie das und jenes gemacht werden könne .. am besten und am billigsten ...
und wenn die Mutter einmal meint: das sei unpraktisch!
dann heißt es, gerade wie sie zwanzig Jahre vorher selber sagte ..
"Nun ja, zu deiner Zeit, Mutterchen! aber seitdem,
weißt du .. seitdem ist die Welt ganz anders geworden! zu deiner Zeit war
man noch nicht so weit und war Eisenbahnfahren und Dampfschiff noch was
Merkwürdiges!"
Oder ..
der Vater kommt heim .. aus der Stadt .. er hat
längst schon weißes Haar .. und hat einen Jugendfreund getroffen,
einen von uns vielleicht .. und er kommt ins Erzählen: von damals .. als
du noch klein warst ..
und du holst ein vergilbtes Photographiealbum und ihr
zeigt euch die Bilder, die wir von dir gemacht .. und du lachst: wie man so
klein sein könne und so dumm aussehen! und heut seiest du doch viel
hübscher! und wie du nie still gehalten hättest und was du für
ein Wildfang gewesen, dem keine Hecke zu hoch und keine Mauer zu steil ...
und dein Liebster drückt dir heimlich die Hand
unterm Tisch und legt den Arm um dich: aber .. er habe dich doch eingeholt! und
ein paar Monate noch und ...
und die Welt liegt vor euch in der goldenen
Sonnenfreude eures Glücks, mit wogenden Feldern und duftenden Wiesen und
rauschenden Strömen und blauen Seen .. endlos offen .. wie ein
großer Gottessonntag .. von seligen Liedern durchjauchzt.
und wiederum zehn Jahre später ..
hast du längst selber so ein kleines Ding um dich
herum, oder zwei oder drei, wie du jetzt selbst noch bist .. das dich anlacht,
aus seinen dunkeln Augen, wie eine große Frage, aus lauter Geheimnissen
und Rätseln und Wundern heraus, und du stehst, wie wir heute vor dir, und
möchtest sie lösen ..
Die Welt ist anders geworden .. es sind andere Dinge
und andere Menschen und doch ist alles, wie heut und immer!
Wie deine Mutter einst mit dir, spielst du nun mit
deinen Kindern, und kommen sie in der Dämmerstunde und wollen Geschichten
erzählt haben .. kramst du ein altes, zerrissenes Märchenbuch hervor,
das einer von Großvaters Freunden damals gedichtet ..
Wie lang das nun her ist! Herrgott! .. damals .. ja!
als der Großvater die Großmutter nahm ..
und besucht dich eines von uns einmal, so hinkt ein
altes Männchen in die Thüre, wie dein Vater .. mit schneeigen Haaren,
wackelig und zitterig .. oder ein altes Frauchen, gebückt und mit
Schrumpeln im Gesicht, wie deine Mutter .. müde von dem weiten Weg, den es
nachgerade gemacht hat, fünf und sechzig Jahre weit vielleicht ...
und du schickst deine Jungens, die Großeltern zu
rufen: es sei Besuch gekommen .. Tante Emmy!
O! und es giebt eine Freude bei den alten Leutchen,
kaum zu sagen .. Sie umarmen einander und küssen sich und weinen .. wie
Kinder oder .. als ob jemand gestorben sei!
Gestorben freilich sind viele! es ist ja auch lang
genug her! ,Dreißig, vierzig, fünfzig Jahre wird's ja wohl sein,
Emmy? .. hätten wir auch nicht gedacht, damals .. und als die Lotte kam!
Ja, ja! .. ja, ja! .. zur Feier des Tages aber wollen wir heute noch einmal
jung sein und .. und ..'
Und dein Mann, Lotte, macht eine Bowle und sie
stoßen zusammen an und trinken, ,auf damals!' .. und fragen und reden und
erzählen ..
,und wie dumm man eigentlich war, mitunter! und wie
unnütz man sich das Leben verärgerte! ..und wie hoch wir alle
hinausgewollt! .. und was aus dem und dem geworden!? .. und wie das Radeln
aufkam! ja! .. und wie es aber doch schön war, Alles! trotz allen Sorgen!'
doch es klingt immer leiser und zuletzt nur:
"Weißt du noch?" wenn du mit deinem Jüngsten auf dem Arm
ins Zimmer trittst, ihn zu zeigen, und Guck-Guck! und Giebs-Händchen! mit
ihm machst ...
und der Großvater geht vielleicht ans Klavier ..
was er schon lange nicht mehr getan .. und spielt ein Liedchen. Aber es klappt
nicht recht und gefällt auch niemand mehr .. es ist viel zu altmodisch!
nur Tante Emmy kann sich noch etwas dabei denken .. ihr andern langweilt euch.
Und wenn sie dann aufbrechen, bringt ihr sie ein
Stückchen .. heimlich aber sagst du zu deinem Mann: "ich bin doch
froh, daß wir noch jung sind .. es ist nichts mit so alten Leutchen! ...
Die alten Leutchen freilich sind wir gewesen, Lotte,
die dich aus der Taufe hoben, damals! ..
und ...
Und abermals zehn Jahre ..
und du hast auch schon wieder eine, die nicht mehr mit
Puppen spielt und nicht mehr in die Schule geht und die Zöpfe fliegen
läßt .. die lange Kleider trägt und ein Ringlein am Finger und
an ihrer Aussteuer näht .. und abends kommt ihr Liebster und ihr sitzt in
einer Balkonstube und die zwei kichern miteinander und beraten, wie das und das
wohl einzurichten wäre .. und: es könne auch mehr kosten, wenn's nur
schön würde .. Papa habe ja gespart!
und das Leben liegt vor ihnen, licht und
frühlingsherrlich, mit wogenden Feldern und duftenden Wiesen und
rauschenden Strömen und blauen Seen .. endlos offen .. wie ein
großer Gottessonntag ..von seligen Liedern durchjauchzt.
Es ist Alles anders, als damals, und doch wieder wie
heut und immer.
Von uns natürlich ist niemand mehr da. Wir sind zu
müde geworden allmählich und sind ausruhen gegangen ...
Du aber bist noch jung, im schönsten Sommer. In
roten Rosen glüht die Welt. Aus tiefblauem Grunde tropft die Sonne ihr
Gold über das reifende Land. Aehrenschwer rauscht das Korn durch die weite
stille Mittagsruhe, wenn ein heimlicher Wind aufwallt und mit durstigen Lippen
sich an ihm satt trinken will, und leise in den Hecken lockt ein Vogelruf ..
Und wenn dir auch zuweilen ist, als klinge es wie
Sichelklang in der Ferne und als röte sich das Laub schon an den
Bergabhängen ..
noch ist es Sommer! ..
Und klingt der Klang der Sicheln dann auch immer
näher und klingt der Ruf des Vogels immer ferner und schleiern sich
allmälich auch Nebel über die Wiesen und zittert jene Wehmut des
erfüllten Wunsches, jene Wehmut des Glücklichseins dir immer lauter
durch die Brust, mit ihrer Sehnsucht: dich wieder sehnen zu dürfen, wieder
säen zu dürfen, nicht nur ernten ..
dann lachen deine Kinder jubelnd ihren jungen
Frühling dir entgegen.
Und bist du fünfzig ..
machst du vielleicht wiederum Guck-guck zu solch einem
Geschöpfchen, wie du heute selber noch bist .. das dich anlacht aus seinen
dunkeln Augen, wie eine große Frage ..
aber: als Großmutter .. zu einem Enkelchen!
Es ist Oktober und November geworden und kahl und kalt
draußen, und Blumen gibts nur noch beim Gärtner und der Himmel ist
grau und hängt voll Schnee, und es friert dich und fröstelt dich ..
und alles ist so anders geworden um dich her, als es
früher war .. du kannst dich kaum mehr zurecht finden ..
und .. es lohnt sich auch nicht mehr! und du
läßt den Dingen ihren Lauf!
Zu dem einen Enkelchen aber sind mehr gekommen, Buben
und Mädchen ..
und du flüchtest dich vor ihrem Lärm auf dein
Zimmer .. eingerichtet, wie es dir behagt und wie mans früher hatte,
gemütlicher als jetzt mit all den tausend neuen Erfindungen und
,Vereinfachungen': ein paar Stücke aus deiner Brautzeit, ein Lehnstuhl von
deiner eigenen Großmutter noch und alte Bilder ..
und du liest etwas, oder stickst, oder strickst, oder
flickst ..
bis die kleinen Wildfänge plötzlich an die
Thüre kommen: ob sie herein dürften? sie würden
mäuschenstille sein, wenn du ihnen was erzählen wollest!
und sie betteln und schmeicheln so lang und so
schön und machen so liebe Augen durch den Spalt .. bis du Ja sagst und das
Jüngste auf den Schooß nimmst und zu erzählen anfängst:
vom Rotkäppchen und vom Schneewittchen und vom kleinen Muck .. alles, was
man dir auch erzählt hat, damals .. und du seiest auch einmal so klein
gewesen, wie sie, und habest auch eine Großmutter gehabt, ihre
Ur-ur-großmutter .. ja! ja!
und die habe alles mit erlebt und habe auch .. Bismarck
noch gesehen und den alten Kaiser und .. wie es Krieg gegeben hätte mit
den Franzosen und wie man die Wacht am Rhein gesungen und wie es ins
Elsaß gegangen sei .. ein Eisenbahnzug immer nach dem andern .. ganze
Tage lang .. und blos Soldaten und Pferde und Kanonen .. über den Rhein,
der damals noch den Franzosen gehört habe .. und wie man Spichern
gestürmt und Sedan belagert und wie der Napoleon habe kapitulieren
müssen .. und wie bei Paris dann alle Könige und Fürsten von
Deutschland zusammen gekommen und Bismarck den König Wilhelm zum Kaiser
ausgerufen ...
Länger als siebzig Jahre sei das jetzt .. aber
ihre Ururgroßmutter habe das alles noch gesehen ..
wie die Leute geweint hätten vor Freude, auf der
Straße ... und der alte Kaiser Wilhelm sei fast hundert Jahre alt
geworden und zuletzt habe nur noch Bismarck gelebt, aber weit weg in einem
einsamen Schloß in einem großen, großen Wald ...
Ja, ja!
Noch einmal zehn Jahre dann
und du bist sechzig, und es ist Dezember und geht
Weihnachten zu.
Deine Enkel sind in die Welt hinaus .. die Jungen, was
Ordentliches zu werden, die Mädchen mit einem braven Mann.
Dann und wann kommt eines von ihnen zu Besuch und das
sind immer ein paar schöne Wochen! und zu Ostern soll es eine Taufe geben
.. ein Urenkelchen!
Ob du es noch erlebst?
Oder eine Jugendfreundin, eine Tante Emmy kommt einmal
.. Es werden ihrer freilich immer weniger!
Du bleibst immer länger in deinem Zimmerchen,
immer lieber auch für dich allein .. und liest etwas .. obgleich es nicht
mehr so recht gehen will .. und .. sie schreiben auch nichts Rechtes mehr!
Vorm Fenster, über dem Platz drüben, liegt
ein Kirchhof .. Alles weiß und zugeschneit, nur ein paar schwarze Kreuze
und Steine ragen aus dem Schnee und der Wind pfeift und heult ums Haus ..
und du denkst, wie lang es wohl noch daure, bis es
wieder schön werde .. Frühling .. und zu blühen anfange?!
wenn man einmal sechzig, denkt man das mitunter! ..
oder du kramst in deinen Schubladen herum: alte Briefe,
ganze Päckchen, aus deiner Brautzeit .. und, von deinem Vater noch,
vergilbte Zeitungen mit Aufsätzen, und ein paar alte Photographieen, die
du dir gerettet, als die Jungens das Album zerrissen: eine junge Frau auf einem
Balkon .. ein Kind auf dem Arm .. und du wunderst dich, daß du das
gewesen!
Auf einmal aber kommt es wieder über dich und du
rechnest: wie lange es noch bis Ostern sei und bis es Frühjahr werde ..
und setzst dich an deinen Tisch und schreibst deinem Enkelkind:
Es solle sich nur keine Sorgen machen, und wenn auch
nicht alles würde, wie man möchte .. wenn man sich Mühe
gäbe, könne man alles und bleibe der Lohn nicht aus! und so wie es
gehe, sei es immer am besten. Du habest das fünfzig Jahre lang erfahren ..
so wie es gehe, sei es immer am besten!
Und wenn es auch über deine Sprüche lache, in
solchen Großmutterweisheiten lägen so ewig neue und tiefe
Wahrheiten, daß man sie recht eben erst als Großmutter
verstünde.
Vor allem aber dürfe man nur nicht meinen, als
müsse alles immer glatt gehen, als müsse tagaus und ein die Sonne
scheinen und als gehöre Aerger und Verdruß und Unheil nicht ganz
ebenso zum Leben, wie Freude und Glück! .. im Wechsel läge das
Schöne! .. und als dürften Eheleute sich nicht auch einmal
rechtschaffen zanken! das täte gar nichts! du habest dich auch gezankt und
oft genug .. aber die Hauptsache sei: sich nicht aus einanderzuzanken, sondern
sich zusammenzuzanken und das gelte dem ganzen Leben gegenüber: .. man
müsse verstehen, sich mit ihm zusammenzuzanken!
Es sähe alles weit verwirrter aus, als es in
Wirklichkeit wäre .. in der Jugend aber sei man viel zu unruhig und stehe
viel zu nahe bei den Dingen ...
erst im Alter, wenn man mehr über das Ganze
blicke, erkenne man, wie viel einfacher alles wäre, wenn man es selbst nur
einfach nehme ..
und wie auch der größte Kummer immer nur
daraus entstehe, daß man Menschen und Dinge immer nur wolle, wie man sie
haben möchte .. anstatt wie sie wirklich wären ..
und daß man sie immer nur für sich, anstatt
in ihrem ganzen Zusammenhang nehme ...
dann erst stehe man drüber! ...
Das aber sei deiner Großmutterweisheiten
weiseste!
Cäsar
Flaischlen . 1864 - 1920
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