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Cäsar Flaischlen
Von
Alltag und Sonne . 1. Auflage 1898
Morgenwanderung
Und sie zogen aus, als zu einem
Mörder, mit Stangen und Schwertern,
ihn zu fahen; Hohepriester, Schrift-
gelehrte und Pharisäer ...
Morgenwanderung
(:Und er saß täglich im Tempel bei
ihnen und lehrete sie!)
nach Matthäi 26, 45.
... mich dünkt: es war immer so!
zu Zeiten Sokrates' wie zu Zeiten Jesu,
zu Zeiten Galilei's wie zu Zeiten Lu-
thers! ....
Jost
Seyfried.
Dämmerige Nacht lag über dem Land. Es war mild, fast warm. Anfang
Mai. Ein mächtiger Tausturm hatte sich erhoben und wogte seine
Frühlingssehnsucht von den Bergen. Wie ein großer Osterchoral
donnerte er über die Gräber und rief zur Auferstehung.
Die Wälder bogen sich und reckten sich und
krachten unter seinem Rütteln; jahrhundert-alte Eichen brachen zu Boden,
und wie Rohr zerknickte, was dürr und morsch war und zu schwach und
kraftlos, aufzuleben. Nur was gesund und stark und triebfähig, hielt
Stand. In der Tiefe des Himmels zuckten wie verlöschenwollende Lichter die
Sterne zwischen den zerrissenen und zerreißenden Wolken, die er lachend,
wie Flaum, über uns dahinfegte, als freue er sich, einmal aufräumen
zu können mit allem, was nicht niet- und nagelfest war. Selbst der Mond
schien Sorge zu haben, über den Haufen geblasen zu werden und verkroch
sich hinter zusammenstiebende Wolkenfetzen. Die Erde bebte unter seinem Donner
.. aber es war nicht das Beben der Furcht .. es war das Beben der Freude, denn
er brachte die Erfüllung ihrer Sehnsucht.
Von den Hängen schwollen die Quellen mit lautem
Geriesel und die fahle, jeden Augenblick wechselnde Beleuchtung überrann
alles mit phantastisch-gespenstischem Leben.
Vor den Gehöften und Häusern, an denen unser
Weg vorüberführte, standen dann und wann die Leute. Der Sturm hatte
sie vom Schlaf aufgejagt; denn das leichte Balkenwerk ihrer Behausungen
erzitterte in allen Fugen unter seinen Stößen. Die Wetterhähne
schrieen von den Giebeln. Es pfiff und heulte. Thüren und Fenster sprangen
auf und schlugen. Vom Dorf herüber klangen die Glocken, angstvoll, dumpf,
drohend, wie wenn ...
Die Leute sagten: der Küster sei es nicht, der so
läute! und blickten bleich und verstört, furchtsam und feig zum
Himmel, und die Weiber beteten: Der jüngste Tag kommt! Die Welt geht
unter! Herr Gott behüt uns! ...
Nein, Mütterchen! Die Welt geht nicht unter! Noch
lang nicht! Es wird nur endlich Frühling!
Frühling! und wenn's noch so tobt!
Frühling! ja! ...
Und lachend zogen wir weiter und sangen und
ließen uns den Tausturm in die Brust wogen .. wir waren ja gewohnt, im
Sturm zu stehn! .. und sangen und jauchzten: Frühlingswärts! Morgen
zu! Sonn' entgegen!
Sonn' entgegen! Frühlingssonn' entgegen!
Das war es ja auch!
Wir wollten die Sonne einmal aufgehen sehen, und das
Frühlingsdrängen in uns trieb uns ihr entgegen .. mit der ganzen Lust
unseres Hoffens, mit dem ganzen Glauben unserer Jugend, mit der ganzen Jugend
unseres Glaubens!
Ein paar, die Furcht überkam und denen unheimlich
wurde vor all den lebendig werdenden Baumstümpfen und Hohlwegschatten,
drehten um, da sie .. ,sich nicht erkälten wollten in dem sinnlosen
Wetter', und verloren sich zurück in ihren trübseligen Alltag.
Wir andern aber zogen weiter durch die prächtige
Nacht und ihren jauchzenden Frühlingssturm und ließen uns,
aufschauernd, sein Evangelium in die Seele donnern. Das Evangelium des
Morgenwerdens.
Weit hinter uns in qualmigem Nebelbrüten lag die
Stadt und alles Mauerumgebene, Enge, Beschränkte und Beschränkende,
die ganze dumpfe Leere und Schwere hungriger Alltagspflicht und würgender
Werktagsangst, und vor uns, um uns, frei und freudig, mauerlos, weit und offen,
voll Lebensdrang und Sonntagsglauben die sternüberflackerte, sturmlodernde
Erfüllung unserer Sehnsucht.
Und wir sangen ihr Lied, das Lied des Morgens, das Lied
der Sonne in den donnernden Sturm und er trug es weiter über die Berge und
von den Bergen in die Thäler und jauchzend rief es uns das Echo
zurück.
Wir kamen durch Ortschaften und Höfe. Die
Nachtwächter fuhren aus ihrem Schlummer, stolperten uns nach mit ihren
Laternen: still zu sein und die Ruhe der Dörfer nicht zu stören mit
unserem thörichten Gesange. Der Morgen käme von selber, ohne unser
Geschrei. Vorderhand aber sei es noch Nacht und wir sollten die Leute schlafen
lassen. Schlaf sei etwas Heiliges!
Ja: die Leute!! Sie lagen und schliefen! Anstatt auf zu
sein in Glauben und Freude, anstatt der Sonne entgegenzuwachen, mit der der
Frühling kommt, von dem sie doch träumen und nach dem sie sich
sehnen!
Es war immer heller geworden.
Wir hatten die gerade Richtung verlassen und erklommen
einen Hügelzug, der ins Thal auslief und von dem sich eine freiere
Aussicht bot. Der Sturm hatte sich allmählich auch gelegt, als ob er sich
genug damit gethan, die Nacht gebrochen zu haben. Die Sterne verglommen. Der
Mond verschwamm in der Tiefe, wie das weiße Segel eines am Horizont
hinabtauchenden Bootes. Es war fast etwas frostig geworden. Kühle Schauer
rannen durch die Luft. In den Thalbreiten zu unseren Füßen lag alles
in schmutzigem Nebel, wie tot, und an den Abhängen krochen und letterten
scheue Dunstflüge herum.
Vor uns .. jenseits, überm Thal, stand das
Gebirge. Sein Gipfelgrat zeichnete sich in harter, scharfer Linie von dem
silbergrauen, sich nach und nach mit leisem Rot überhauchenden Grund des
Himmels hinter ihm ab.
Da bemerkte ich auf einem der Berghäupter
drüben etwas herumkrabbeln .. schwarze Gestalten, Menschen, richtige
Menschen, nur infolge der Entfernung kaum viel größer als Gullivers
Liliputer, zwerghaft, wunderlich. Es sah närrisch aus. So närrisch,
wie einem all dergleichen vorkommen muß, wenn man etwas nur sieht und
nicht auch hört. So närrisch, wie einem Tauben vielleicht das ganze
Leben, das ganze Treiben der Welt erscheinen mag.
Als ob wir in einem Marionettentheater säßen
und einer niedlichen Pantomime zusähen. Der helle Himmel hinter dem Gebirg
bildete den weißen Vorhang und wie in einem Schattenspiel hoben sich die
kleinen schwarzen Kerlchen, gleich zierlich putzigen Silhouetten, mit allen
Bewegungen scharf gegen den lichten Hintergrund ab.
Ein richtiges Schattenspiel ... der Nacht!
Der kleinen Kerlchen aber wurden immer mehr, wie mir
schien, und als unter einem Windstoß der Nebel etwas verzog, erkannte
ich, daß es in seinem Schutze den ganzen Berg hinauf in hellen Haufen
stand. Sie zappelten und fuchtelten mit den Armen in der Luft herum und liefen
und rannten in seltsamer Hast und Unruhe hin und her.
Dann schien plötzlich etwas los zu sein. Sie kamen
mit langen Stangen und Haken, mit mächtigen Winden, Haspeln und
Kettenrollen. Wieder andere schleppten sich mit Leitern, die für ihre
Größe ungeheuer sein mußten, und es begann an allen Punkten
eine fast fieberhafte Geschäftigkeit. Die Erde wurde aufgegraben, der
Felsgrund gesprengt und riesige Pflöcke darin verankert. Dann schmiedeten
sie lange eiserne Ketten durch die Ringe, und Drahtseile und Taue, und
verklammerten mit diesen wieder die großen Leitern, die sie
hinaufgeschleppt hatten.
Hinter dem Gebirgsstock aber wurde es immer heller und
heller, wie brodelnder Gischt dampfte es ab und zu empor. Doch je heller es
wurde, um so unruhiger und eiliger, um so aufgeregter wurde das Getrippel und
Gearbeite der kleinen Schattenkerlchen.
Ich unterschied nun eine ganze Armee von Lanzknechten
mit Piken und Hellebarden, mit Morgensternen und Donnerbüchsen. Sie
hielten am Berg hinauf, in verschiedene Fähnlein geteilt. Auf einer etwas
tiefer gelegenen Kulm war eine ganze Batterie von Mörsern und Kanonen
aufgefahren, als gelte es ... Gott weiß was für eine
Völkerschlacht.
Die Leitern wurden aufgestellt und ragten senkrecht in
die Luft und die ganze Gratlinie stand voll von Leuten mit Stangen und Haken,
so lang und schwer, daß es ihrer immer ein ganz Häuflein zugleich
bedurste, sie zu regieren.
Allmählich aber ahnte mir, was das Alles bedeuten
möchte.
Ich lachte.
,Nein, Mütterchen! Die Welt geht noch lange nicht
unter! Keine Sorge! Es wird nur endlich .. Frühling!
Gott sei Dank!'
Es wird nur endlich Tag!
Nach so langer, dumpfer Nacht!
Und wir stimmten das Lied der Erfüllung an, das
Lied des Morgens, das Lied der Sonne und ihres Aufgangs ... und es brauste wie
Orgelklang durch die Stille, siegverheißend, jubelnd und jauchzend!
Kühle Schauer zitterten durch die Luft,
während der Himmel drüben sich mit roten Feuern überglutete, und
unsere Schattenmännchen, gleich tagscheuen dunklen Nachtgeisterchen, immer
unruhiger, erregter und gestikulierender hin und her rannten.
Da:
Ein blendender Blitz ..
und mit purpurgoldener Flamme taucht der Sonnenball
über die graue Kammlinie und strahlt ein loderndes Hallelujah über
die Welt
Tag! Tag! Tag!
Und Frühling! Frühling!
Im selben Augenblick aber schlugen die Kerlchen
drüben die Widerhaken ihrer Stangen in den emporstrebenden Ball, um ihn
festzulegen. Andere warfen die Leitern über ihn und kletterten mit
flinkster Geschicklichkeit darauf hinüber. Sie rollten lange Seile und
Taue hinter sich ab, rammten Pflöcke ein und verhakten ihre Ketten daran,
während die ganze Soldateska auf dem Berg in Bewegung kam und anpackte,
die Sonne wieder in ihre Tiefe zu zwingen.
Wir lachten.
Aber immer neue Haufen rückten an, mit immer
längeren Stangen und Leitern und Ketten. Sie zerrten von den
Berghängen große Wände herauf, Segelleinen oder was es war,
Nebel?
Wie blauer Rauch jedoch zerrannen sie vor ihrem Licht
..
und die Sonne stieg höher und höher über
den Gebirgsgrat, ruhig, unbeirrt und unbekümmert und blendete immer
lichter in die Welt. Was wollten ihr diese Fliegen!
Da griff die Feuerwehr in den Kampf ein; zwölf,
zwanzig Schläuche zugleich ergossen ihre Wasserstrahlen, von uns aus
gesehen so dünn freilich, wie Spinnwebfaden ... sie auszulöschen und
über den Horizont hinunterzuspritzen.
Es zischte ein wenig, das war alles.
Schon flammte die halbe Scheibe über den Kamm.
Da plötzlich begann ein feines, zirpendes
Geknatter, wie wenn Kinderpistölchen abgeschossen würden. Die
Lanzknechte hatten mit ihren Donnerbüchsen losgelegt und von der
seitwärts gelegenen Kulm krachte Kanonensalve um Salve durch die
majestätische Bergruhe.
Doch es zischte nicht einmal darauf. Ruhig und
unbekümmert stieg die Sonne empor, höher und höher.
Immer neue Kettentaue aber wurden
hinübergeschleudert und von den Waghälsen drüben angepflockt.
Immer neue Schübe kletterten hinüber mit Hämmern und Klammern.
Und an die diesseitigen Enden hängten sich ganze Knäuel, ihre Kraft
und Stärke zu messen.
Da - mit einem Male - war es doch, als ob sie siegten.
Die Sonne stand eine Spanne hoch über dem Grat und
hing wie ein Fesselballon in dem eisernen Netz, mit dem die Kerlchen sie in
wenig Minuten übersponnen hatten.
Sie war gefangen.
Ihr Aufatmen und Höherdrängen spulte nur ein
paar zu kurze Ketten ab, die in die Luft schnellten, die anderen zogen sich
straff und straffer, hielten aber .. und es gab einen sekundenlangen
Stillstand.
Die schwarzen Männlein hatten gewonnen.
Und schon zerrten sie wieder dicke Nebelwände von
den Berghangen herauf und schon fuhren sie allerlei sonderbare, mächtige
Maschinen herbei, die Gekettete herabzuwinden, als es plötzlich einen kaum
merkbaren, leisen, zitternden Ruck that, der goldene Lichtwellen über das
Thal warf.
Sie war wieder frei; und alles, was noch gehalten hatte
bisher an Ketten, Klammern, Tauen, Seilen, Stricken, Leitern, Stangen und
Haken, riß durch wie Baumwollfaden, schnellte hoch und die ganze
Soldateska purzelte jählings über den Haufen und kollerte in die
Abgründe oder flog mitsamt ihren Ketten und Leitern und mitsamt der ganzen
schönen Verankerung kopfüber lustig in die Luft. Gleich einem
Aschenregen quirlte und rieselte es über den Berg und putzte ihn sauber
....
Wir lachten. Es war grausam .. aber wir lachten: wie
diese Sonnenstürmer in ganzen Klümpchen an ihren Stricken und Ketten
zwischen Himmel und Erde zappelten und wie tollgewordene Ameisen in
Verzweiflung und Todesangst an ihren Leitern auf und ab wuselten.
Ein Teil der Unglücklichen suchte sich durch
kühnes Abspringen zu retten. Es sah aus wie schwarze, in rote Feuer
hüpfende Teufelchen!
Die anderen aber trug die Sonne höher und
höher, bis in der steigenden Glut auch die letzten Ketten schmolzen, die
ihr noch überhingen und eine um die andere in den Abgrund klirrte und
hinter dem Gebirg zu Stücken und Staub zersplitterte ....
Arme Schattenmännlein! doch warum wagtet ihr euch an die Sonne!
Und frei und makellos glomm sie in die Höhe, in
schweigender Glorie, groß und feierlich, heilig und herrlich und loderte
den Tag ins Thal und über die Welt und mit dem Tag den Frühling und
mit dem Frühling die Erfüllung.
Die Menschen drunten schliefen noch. Gleich scheuen
Verbrechern aber flüchteten die letzten Nebel und Schatten sich in ihre
Schluchten und Schlüfte. Lerchen stiegen aus den Gründen und
jauchzten zum Himmel ..
und wir standen und jubelten ihnen zu und sangen das
Lied des Morgens, das Lied der Sonne und ihres Aufgangs und es war ein Lied der
Freude und ein Lied des Siegs!
Leis aber frug ich mich: ob es jedesmal so sei, wenn
die Sonne aufgehe?!
Cäsar
Flaischlen . 1864 - 1920
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