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Karl Kraus
Worte
in Versen I . 1. Auflage 1916
Sendung
Der tote Bruder schickt mich in dein Leben
und läßt dir sagen: Nie verläßt er
die Freundin, ihm verloren nur als Schwester.
Etwas von ihm blieb hier, sich zu verweben
mit einem Teil von dir; sich so zu binden,
daß du ihn sollst im Diesseits wiederfinden.
Beklagst Verlust du, ist Gewinn daneben.
So still er ist, gestillt ist auch sein Sehnen;
nur der Erfüllung fließen deine Thränen.
Zu klarer Aussicht sollst den Blick du heben!
Ganz nah dort, Freundin, auf dem lichten Hügel
spielt er und in dem Erdenspiegel,
den uns des Lebens Schatten noch umgeben,
beschaut er gern sein unverblichnes Bild,
und staunt, daß er es sei: so mild
vor der Vollkommenheit, sie anzustreben
so feurig; und das ganze Herz bereit,
zu Gott zu fliehen aus der engen Zeit,
der Staub und Blut an Kerkerfenstern kleben.
Er will nicht, daß du weinst. Es sprach der Tote:
"Geh du zu ihr, sei Ich ihr, sei mein Bote!
Tod heißt nur: zwischen ihren Sternen schweben.
Karl
Kraus . 1874 - 1936
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