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Karl Kraus
Worte
in Versen V . 1. Auflage 1920
Nach zwanzig Jahren
Im vorigen Jahrhundert war's, im letzten,
vor solchem Wechsel schon erstarrten Jahr
war's, daß ein gutgelaunter Gegendämon
sich diesen ernsthaften Aprilscherz machte
und mich ersah, ihn jenen zu bestellen,
den abwärts fortgeschrittenen Zeitgenossen,
im Lauf nur lesend, weil der schwarze Fluch
sie antrieb, auf dem Laufenden zu sein.
Und du, rief dieser Widerpart der Zeit,
bestehe sie, je flüchtiger sie lesen!
Ermüde nicht an ihrer atemlosen
naturentflohnen, zeitverrannten Hast;
dein Weg, vom Ursprung übers Ziel hinaus,
ist länger, darum sollst du nicht ermüden!
Sei Zucht und Strafe, Licht zugleich und Brand;
durch Liebe sind sie nimmermehr zu halten:
so opfere dein Herz den Haßgewalten -
dein Heft, es bleibt als Heft in deiner Hand!
Weh, welche Gnade war da nicht am Werk,
vom allgemeinen Fluch mich zu begnaden!
War's nicht des eignen Schicksals Wetterwende,
des eignen Lebens launischer April,
in den die Götter mich zu schicken drohten?
Mein Ohr erfüllend mit der Qual der Welt,
daß meine Zunge die Geräusche forme!
Aufreißend ach mein himmelsuchend Aug
den Mißgebilden dieser Erdenhölle!
Doch all der Ohrenschall und Augenschein
ohne die Zeugenschaft des Sehns und Hörens:
bloß aus der Ferne drängt es sich mir zu,
den Schall und Schein der Lüge wahrzunehmen.
Dies kann ich nur, weil ich nicht anders kann,
und weiß, dies ist ein Zwang und kein Talent.
Und nie war einer, der das Leben meistert,
so mitten drin ein ärgrer Dilettant
und hat's von außen so gemeistert; gleichsam
vom Hörensagen, aber freilich so,
daß er nicht einmal hörte, was sie sagen,
und dennoch hörte, wie sie's sagen, und
daraus verstand, wie jenes Leben sei.
Hätt' ich in zwanzig Jahren das getan,
was Leute tun, die unter Leute kommen,
ich hätte kaum erfahren, was ich wußte.
Ich hab' mir nur den Lohn der eignen Kunst
mein Leben lang vergönnt und diese war,
mir auch das fremde Leben zu ersparen.
Ich meide die Theater jeder Art,
weil ich schon ganz von selbst weiß, wie sie spielen;
und lockte hier und dort ein Vortragssaal,
so ging ich nur hinein, um selbst zu sprechen.
Zerstreuung aller Art hab' ich gefunden
in siebentausend und dreihundert Nächten,
die ich bis an den Tag hab' durchgewacht,
ihn zu belauschen und ihn zu betrachten,
völlig verschont von seiner Gegenwart.
So konzentriert auf euch und was euch nur
in zwanzig Jahren die Zerstreuung bot,
doch so verstrickt in solche Abenteuer,
von denen ihr am Spieltisch, auf der Jagd,
im Drange der Geschäfte nichts, ja selbst
nicht liebend oder betend etwas ahnt.
So spielt' ich, jagte, feilschte, betete
und liebte so auf einem Schreibtischstuhl,
und schlug mich durch ein Dickicht von Gesichten.
Nun fragt mich nicht, was ihr davon bekamt.
Ich weiß es nicht, und kann nur ehrlich staunen,
daß solcher Flucht und Inzucht irgend etwas,
das in das Leben wirkt, entsprossen sei.
Am gläubigsten begegnet noch mein Zweifel
dem eueren. Ich weiß kein bessres Lob,
als wenn mir einer sagt, ein Feuilleton
flöß' ihm am Sonntag lieblicher ins Herz
als die zehntausend Seiten, meiner Nächte
höchst ungesundes Paradoxon. Oder:
die Trauben, die ich in Verruf gebracht,
sie wären unerreichbar mir gewesen,
hinc illae lacrimae und so entschloß
ich mich, ein Narr auf eigne Faust zu sein.
So sprechen jene, deren Vorzug ist,
dort recht zu haben, wo sie recht haben.
Halb ein Phantast aus Mangel an der Welt,
halb ein Pedant aus Überfluß an mir,
kenn' ich im Ganzen mich mit mir nicht aus.
Bald drückt mein Größenwahn den eines Nietzsche
so an die Wand, daß ich das ganze Sprachgut
der deutschen Literatur nicht für ein Wort
von mir, nein auch sogar für keine Pause,
die zwischen zweien meiner Worte Platz hat,
ja nicht einmal für ein Jargonzitat,
das meinem Ohr ein ferner Korso zuwirft,
ja selbst nicht für den kleinsten Zeitungsausschnitt,
den ich nur eingestellt, doch nicht verfaßt hab',
eintauschen möchte. Bald ist's wieder so,
daß ich den letzten Schmierer, eben jenen,
der selbst verfaßt hat was ich nur zitierte,
beneide und wenn mich, den Bettelmann
die Scham nicht hemmte, ihn, den satten Krösus
von Herzen bäte um ein Adjektiv.
Doch der geht stolz vorbei und kennt mich nicht.
Still bleibt's um mich, und diese Stille macht,
daß sie den eignen Lärm nicht hören können.
Fragt mich nach zwanzig Jahren, wie es kam,
daß solcher Ruhm aus solchem Schweigen wuchs,
das rings mich einhüllt; daß er lauter tönt,
als wenn durch zwanzig Jahr' die Pressemeute
mich täglich hätt' im schmutzigen Maul geführt -
ich weiß es nicht. Ich muß wohl selbst dran schuld sein;
doch weiß ich eben nicht, woran es liegt.
Welch eines Mangels Fülle, die mehr aufregt
als sie befriedigt und am hungrigsten
sich selbst zurückläßt, und ein Feuerkreis
von Hysterie mit Liebeshassesflammen
umspielt den winzigen Winkel meines Tags.
Wozu der Lärm? Von mir gibt's lange Sätze,
und längere Ohren, die sie nicht verstehn.
Das gibt ein Aufsehn; doch schafft's eher wohl
Verdruß dem Leser als dem Autor Ruhm.
Wer soll's denn fassen, daß den seitenlangen
Periodenbau ein Atemzug durchweht,
wenn er an Asthma leidet? Dieses kommt
vom vielen Laufen. Diese flüchtigen Leser
sie bleiben stehn, dann laufen sie zurück,
und kommen nicht zum Schluß des langen Satzes.
Dann gibt es wieder einen kurzen Vers,
der auf den ersten Blick erfaßbar ist -
doch plötzlich dehnt er sich zum Labyrinth.
Das ist ein Zauber, und der Leser hat es
beinah so schwer wie ich, und jedes Wort
ist uns ein Kreuz, mir und den Schriftgelehrten.
Auch mir sang Philomele, oh, sie rief
mich aus dem Stoff, der heillos mich bedrängt,
eh ich ihn meistre. Aber Schönheit war,
wo mir die Sprache zu Gefallen war,
und alles lyrische Geheimnis ist
mir auch im widrigsten Geräusch erschlossen.
Lyrik ist alles, was am tiefsten Grund,
mögt oben ihr die Widersprüche lesen,
identisch wird zu immer neuem Wesen,
aus Klang und Ding ein unlösbarer Bund.
Doch solches sind Allotria, und die Welt
will, daß die Feder sich ihr nützlich mache,
wenn schon nicht angenehm. Was bleibt ihr denn
in ihrer Hand? Vom blutigen Turnier
ein Silbenstechen und ein Haarespalten;
und wer's so bunt durch die Jahrzehnte trieb,
hat ausgespielt für alle Lebenszeit.
Dies, was die Form betrifft; der Inhalt war
noch dürftiger. Beim Licht der Tageszeitung
zerstiebt der Spuk. Versuch's und leg den Geist
auf deine flache Hand: nichts bleibt davon.
Das Element, es läßt sich nicht zitieren,
potz Element, es rinnt dir durch die Hand.
Gedanke war's in aller Konsequenz,
und Meinungen, einander widersprechend,
wies man mir nach, und als die Welt dahin,
ganz wie ich's längst aus kleinlichen Symptomen
erschaut, da riefen Überlebende,
ich hätte, da die Welt zum Teufel ging,
nur die lokalen Tatsachen bemerkt.
Indes war nicht das Augenmaß verfehlt,
doch ich vergriff mich in der Reihenfolge.
Ich sang der Zeit das Grablied, eh' sie starb.
Hier war ein Anlaß, in das alte Testament
mich rückzusenden und den Fluchenden
dem alten Fluche wieder zu verknüpfen.
Doch eher glaub' ich wohl: daß unsereins
mit der Geburt den Pflichten seines Stammes
genug getan und dann gings höherwärts,
und unerreichbar hoch der Menschenrasse,
die unter allem Recht geboren ist,
sich christlich noch von Juden abzusondern.
Denn welch ein Schrei nach Geld vereinigt sie!
Und welch ein Gott der Nächstenliebe war
der rachevolle Gott vor dem gerechten,
in dessen Namen so viel Blut verrann!
Aus solchem Fegefeuer ungeläutert
hervorzugehn - da blieb' ich lieber drin;
ich bin nicht Jud genug, um Christ zu sein!
Doch wünsch' ich fromm, daß gelbe Heiden kommen,
die Ornamente unserer Heiligkeit
an unsren Eisenstirnen zu zerbrechen,
und diese dann an ihrer Menschlichkeit!
Denn über alle Maßen trostlos war's,
zu solcher Zeit an solchem Ort zu leben.
Zuweilen gibt es zwar Entschädigung,
die kleinen Ansprüchen genügen mag.
So wacht' ich neulich auf und las die Nachricht,
daß Österreich dahingegangen sei.
Seit zwanzig Jahren hatt' ich es erwartet,
und wären seine letzten Züge nicht
mit reichlicher Verspätung eingetroffen,
hätt' es der Menschheit all dies Weh erspart.
Ich atme auf, die lästige Begleitung,
das andere K, K., der nom de guerre,
der Schatten meines wahren Namens wich
mir von der Seite in das Schattenreich.
Dies Leid ist Tröstung, und das Menschentum,
das insgeheime, außer Dienst gesetzte,
das keines Scheins bedarf und keiner Macht,
und Würde nur, nicht Würden sich verleiht,
schöpft Hoffnung gar aus diesem schlichten Faktum:
Mein Wort hat Österreich-Ungarn überlebt.
Dies Wort mag einer Welt, der alles fehlt,
doch nichts so sehr wie Ehre, wenig gelten,
so wenig selbst wie mir, der es erlebt hat
und lieber seinen Zweifel ausgekostet
als den Erfolg. Und dennoch war dies Wort,
und wenn ich's gleich am Tag nicht mehr erkannte,
verwandt dem innern Wesen. Wort und Wesen -
die einzige Verbindung, die ich je
in dieser nutzbeflißnen Welt erstrebt.
Kein Opfer gab's, an allem, was euch freut,
Besitz und Geltung, Ruh und Nervenglück,
das ich nicht mit Begeisterung dargebracht,
um euch am Geist kein Opfer darzubringen,
im Erdensturz dem Umbruch einer Zeile
noch zugewandt, bis an den jüngsten Tag
erfüllend jene heilige Satzung, wo
es auf das Komma ankommt, mag ich stammelnd
dereinst nicht wissen, was das Thema war.
Geschlecht und Lüge, Dummheit, Übelstände,
Tonfall und Phrase, Tinte, Technik, Tod,
Krieg und Gesellschaft, Wucher, Politik,
der Übermut der Ämter und die Schmach,
die Unwert schweigendem Verdienst erweist,
Kunst und Natur, die Liebe und der Traum -
vielfacher Antrieb, sei's woher es sei,
der Schöpfung ihre Ehre zu erstatten!
Und hinter allem der entsühnte Mensch,
der magisch seine Sprache wiederfindet.
Ein Irrgang seiner bangen Zeitlichkeit,
der Leichenfelder streift und Paradiese,
ist diese Welt des Worts, so bunt an Stoff
wie voller Irrtum. Aber was im Ursprung
jeweils das Angesicht der Wahrheit trug,
es wird die Zeit am Ende Lügen strafen.
Was hilft es ihr, daß sie mir nun entflieht,
und mich die Jüngern spielend überwinden!
Ich treff sie noch in meinem Abschiedslied,
und Junge werden leichter zu mir finden.
In ihrem dunkeln Drang und Weltverwirren
zurück als Führer bleibt mein ganzes Irren!
Karl
Kraus . 1874 - 1936
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