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Detlev von Liliencron
Bunte
Beute . 1. Auflage 1903
Aussicht vom Schlosse
(Sommernacht.)
Müde des Tagetriebes entschlummert allmählich das Städtchen.
Fröhliche Kinder umschrien vor wenigen Stunden die Kirche,
Lärmten in Garten und Hof, dann fing sie der Schlaf in den Armen.
Auf den Bänken der Häuser erzählen sich ruhige Nachbarn,
Dicht aneinandergestellt, mit Schrecken das große Ereignis:
Peter Johannsen verstarben am Morgen zwei Kälber auf einmal.
Tiefer steigen die Schatten, es ziehen die Sterne vorüber,
Unbarmherzig und kühl, im ewigen stummen Triumphzug.
An die Pforte gelehnt des kleinen bescheidenen Gartens
Schaut zu den Welten hinauf die pflichtüberbürdete Mutter:
Waschen und kochen und nähen und flicken und Kindererziehung
Füllte den Wochentag aus, nun hat sie zum Atmen Erlaubnis.
Tiefer steigen die Schatten, es biegt sich tiefer der Hahnschweif,
Der in der Sonne so stolz und breit auf der Straße geschaukelt.
Kauernd lagert die Ohnmacht in allen Ecken und Winkeln.
Nur in der Laube benetzt der Nachttau ein heimliches Brautpaar.
Müde des Tagewerks liegen muckstill unten die Dächer.
In phosphorischem Licht verschwimmend, umgrenzen die Ufer
Träumend den schimmernden Fluß, umfächert vom leisesten
Westwind.
Auf der Liliputinsel verdunkeln sich einzelner Eichen
Raunende Kronen, die, tiefschwarz, täuschend gleichen den Palmen.
Und ein zärtliches Lied, das fern in der Schenke in Smyrna
Einst ich gehört, es sprach es der bronzene Märchenerzähler,
Dringt ans Ohr mir wieder. Wie deutlich hör ich die Worte.
Ringsum schweigende Wälder, in denen sich äsendes Rehwild
Weiter zieht vertraut auf mondbeschienener Lichtung.
Saugend holt die Erde allmählich die Nacht in die Tiefen.
Weit, weit hinter den Wäldern im ruhigsten, äußersten Morgen
Zeigen sich rötliche Streifen. Es überschütten vom Himmel
Goldene Rosen die Wipfel, den strudelnden Fluß und das
Städtchen.
Detlev
von Liliencron . 1844 - 1909
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