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Detlev von Liliencron
Der
Haidegänger und andere Gedichte . 1. Auflage 1890
Sommermittagsspuk
Es
ereignete sich, so wurde mir erzählt, in einem fremden,
fernen Lande, in einer Hauptstadt: Ich war dort
unserer Botschaft als Legationssekretär beigegeben. Wie
es meine amtliche Stellung mit sich brachte, verkehrte ich
fast ausschließlich in der Gesellschaft. Die "Gesellschaft" ist
in allen Ländern sich gleich. Sie besteht, selbstverständlich
mit mancher Ausnahme, aus herzensrohen, kühldenkenden
Menschen, deren Gesprächsstoffe, deren leeres Leben zu bekannt
sind, als daß ich es weiter zu erörtern brauche. Doch
auch brauche ich anderseits nicht hinzuzufügen, daß ich in
der "Gesellschaft", wie in jedem Stande auf Erden, Kluge
und Dumme, vornehm und niedrig Denkende gefunden habe.
Wie dem sei: immer fast habe ich bei diesen in ihrer Lebensstellung
bevorzugten, vielfach reichen oder wohlhabenden
Menschen, wie ich schon erwähnte, Herzensrohheit bemerkt,
jenes sich, wenn auch oft klug verdeckte, stark erhaben Dünken
über ihre nicht auf gleicher Rangstufe oder in gleichen
Vermögensumständen stehenden Mitbrüder und Mitschwestern.
Es war an einem glühend
heißen Sommertage.
Bedauerlicherweise kann ich nur den Vergleich aufstellen: als
wenn wir ihn auf Lichtbildern tropischer Städte sehen, mit
jenem grellsten Sonnenlichte, mit den zahlreichen, alle Fenster
beschattenden Marquisen. Trotz der ungemeinen Hitze zeigte
sich das lebhafteste Leben in den Straßen. Irgend Einer,
irgend etwas wurde erwartet: Eine Prozession, ein Schnellläufer,
siegreich zurückkehrende Truppen, ein deutscher Professor
mit seinen Werken unter'm Arm, ein gefangener
Aschanti-Häuptling, ein Verbrecher auf seinem letzten Gange,
ein ausländischer König, eine deutsche Schützengilde mit
ihren Fahnen und Saufhörnern und Biercantaten. Was
weiß ich. Genug, Alles war Erwartung.
Ich stand im Fenster einer,
wenn ich es in unsere
Sprache übersetzen will, Konditorei. Zuckerbäckerei klänge
viel besser; aber der Ausdruck paßt hier nicht. Die Konditorei
war um die Mittagszeit der unbeabsichtigte Sammelplatz
der "Gesellschaft". Die Damen aßen Eis, die Herren
Pasteten. Ich unterhielt mich mit einer sehr lustigen,
bildhübschen spanischen Herzogin. Sie erzählte mir unter
klingendem Gelächter, daß sie einmal mit Verwandten von
Hamburg nach Kiel in einem Wagen gereist wäre, um
die Buchenwälder Ostholsteins, von denen sie viel Rühmens
gehört, zu sehen. Unterwegs wäre, genau wie
das in Romanen beliebt wird, ein Rad gebrochen. Ein
Gutsbesitzer habe sie gastfreundlich aufgenommen. Als sie
mit diesem im Laufe des Gespräches auch die spanische
Litteratur berührt, ihm von Calderon gesprochen habe, hätte
sie vom Gutsbesitzer nur die Worte Wauwau vernommen,
überhaupt immer nur Wauwau, selbst dann, als sie auf
die deutsche Schönwissenschaft gekommen sei und ihm besonders
seinen großen Landsmann Theodor Storm erwähnt habe.
Vollkommen sei ihr schließlich dieser Gutsbesitzer wie der
dumme Galomir in Grillparzers "Weh' dem, der lügt"
vorgekommen. Neulich habe sie sich dieses Gutsbesitzers
erinnern müssen, als sie in der Zeitung gelesen: "Berlin.
Auf der Mastviehausstellung hat die Provinz Schleswig-Holstein
einen großen Erfolg erzielt. Es fielen ihr in
den Abteilungen für Rindvieh und Schweine zwei Ehrenpreise,
fünf erste Preise und sechs zweite Preise zu." Ja,
Wauwauwau...
Auf der Straße stand
alles dichtgedrängt wie eine
Mauer. Einige versuchten nach vorne zu drängen, vergebens.
Auf dem freigelassenen Hauptwege ging's seinen
Gang wie immer. Die Schloßwache mit einem allerliebsten
dunkelgebräunten Lieutenant, der, zu uns hinaufblickend, den
Degen senkte, stampfte mit schallendem Spiele vorüber.
Voran der sich bei allen Weibern der Welt für unüberwindlich
haltende Tambour-Major. Die linke Hand fest
in die Seite stemmend, warf er mit der rechten den blitzenden
Stock wie ein Gaukler in die Luft. Schusterjungen, wie
überall, begleiteten im Taktschritte die Musik.
Droschken fuhren langsam durch.
Die Kutscher wandten
sich oft zu den darinsitzenden Fremden, die unfehlbar ein
rotes Buch in Händen und ein Opernglas umgehangen
hatten. Sie machten da und dort mit der Peitsche auf
ein Denkmal, auf einen hervorragenden Bau aufmerksam.
Einmal kam ein
schöngezeichneter, schlanker Hühnerhund,
der seinen Herrn verloren hatte, angelaufen. Er blieb vor
uns stehen, bog den Kopf in den Nacken und heulte. Es
that mir sehr wohl, daß unten das "Volk" nicht darüber
lachte. Ich konnte es herausfühlen, daß es Mitleid hatte
mit dem bedauernswerten Tiere.
Am Ende der breiten, durch
Plätze unterbrochenen
Zeile sah ich, gleichsam wie einen flüssigen Bogen, den gewaltigen
Strahl der Pflasterbesprengung einen Abschluß
machen.
Plötzlich hatte ich durch
einen Umstand einen merkwürdigen
Gedankengang. Dieser Gedankengang währte nur
eine Sekunde:
Unten zog ein etwa
sechzehnjähriges Mädchen einen
Karren vorüber. Sie hatte den Quergriff der Deichsel mit
den Händen gefaßt. Sie bog sich nach vorne. Die Arme
strafften sich. Durch die zurückgedrängten Schultern kam
die herbe Fülle ihrer Frühlingsbrust zum Ausdruck. Um den
gelbbraunen Hals lag lose ein feuerrotes Tuch. Unter
dem schwarzen Haare, das ihr etwas zerzaust in die Stirne
fiel, sahen feurige, wilde, dunkle Augen begehrlich zu uns
hinauf. Und da kam mir jener Gedankengang, der blitzschnell
wieder verflog:
Ihr alle, die ihr jetzt im
Laden um mich seid, was
seid ihr doch gegen jenes kräftige, junge Ding unten. Welches
dumme, alberne Gewäsch ist euer Gespräch. Wie herzlos
sind eure Ansichten über alle die, von denen ihr der sichersten
Überzeugung seid, daß sie tief unter euch stehen. Was kennt
ihr denn von der Schönheit! Was habt ihr denn für
Freude an der Schönheit!
Ich rief, mich vergessend, wo
ich mich befand; nein
, ich will's sagen: mit vollstem, köstlichen Bewußtsein, der
Karrenzieherin in ihrer Landessprache zu: "Halt, Mädchen."
Sofort ließ sie das Gefährt stehen. Ich merkte an ihrem
Gesicht, daß sie sehr erschrocken gewesen sein mußte. Sie
mochte wähnen, daß sie eine polizeiliche Vorschrift nicht
inne gehalten habe. "Komm herauf", rief ich ihr dann zu.
Und sie kam; willig ließ die Menschenmauer, so gut es
ging, sie durch. Nun stand sie unter uns. Sie hatte den
kleinen Finger der Rechten in den Mund geschoben wie ein
Kind. Alles um sie schwieg; alle sahen sie an; die Herren
klemmten ihre Scherben ein; die Damen nahmen ihre langgestielten
Gläser vor die Augen. Ich half dem Mädel sofort
aus der Verlegenheit, indem ich freundlich mit ihr
sprach. Ich sagte ihr, sie solle sich unter den Kuchen auswählen,
was sie wolle. Und da ihr das schwer zu werden
schien, sagte ich, den Ton unerhörten Hochmutes annehmend,
zu einer der Bedienenden, die spöttisch und erstaunt die
Kleine und mich beobachteten; "Packen Sie das und das
und das ein." Ein teuflischer Hochmut faßte mich, ich hatte
in dem Augenblick eine unsägliche, jubelnde Freude: Ich
nahm das Geschöpfchen bei der Hand und führte sie einem
Platze zu, wo ein mir widerwärtiger geckenhafter alter Freiherr
saß. "Sie erlauben, Baron!" Und das Einglas
fallen lassend, erhob sich dieser Herr, wie, um einer Königin
zu weichen. Und das Mädchen setzte sich. Ich brachte ihr
dann Gebäck und einen kühlen Trunk. Sie aß und trank,
uns ab und zu scheu musternd. Noch immer schwieg Alles.
Nur die leise Stimme einer uralten, aufgedonnerten Gräfin
hörte ich: "C'est une extravagance; c'est intolérable,
indigne, incroyable." Ich wandte mich ihr ruhig zu. Sie
erblich.
"So, Marianina, nun geh'
wieder zu Deinem Wägelchen",
sagte ich liebevoll zu ihr. Dann wieder mich herrisch zu
einer Kellnerin wendend: "Tragen Sie die Düten dem
Mädchen in ihren Karren." Sie gehorchte augenblicklich.
Nun waren wir wieder
"unter uns". Ich that, als
wenn nichts geschehen sei; und die übrigen waren klug
genug, mit keinem Worte, mit keiner Miene mich an meine
"Extravagance" zu erinnern.
Da ertönte ein
unermeßliches Gelächter von weitem
her: Ah nun kommt das Erwartete... Und immer mehr
näherte sich dies Gelächter, immer lauter, brausender setzte
es sich zu uns fort. Nun hörte ich Rufe: Evviva, evviva!
Il poeta prussiano! Und da kam er an, der Unglückselige,
der "teutsche Tichter". Alle Köpfe beugten sich vor, alle
Hälse
streckten sich. Das Pflaster der Straße war nun ganz leer.
Und da kam er langsam an, der deutsche Dichter! Sein Vaterland
hatte ihn, als den gänzlich Überflüssigen ("voll und
ganz", wie das infamste deutsche Zeitungsgeschmierwort
meiner Zeit heißt) mit Fußtritten und unter Spott und
wüstem Hohngelächter über die Alpen gesandt. "Wie bin
ich satt von meinem Vaterlande", hat Platen, der edle
Dichtergraf, einst gesagt in ähnlicher Lage.
Ja, da kam er nun, und ging
langsam, gesenkten
Hauptes bei uns vorüber. Und in das stürmische Gelächter
fiel auch ich ein.
Ein langer, dürrer Mensch
war's. Seine zähe Natur
hatte, unglaublich, die ihm von seinem Volke streng besohlene
Hungerkur ausgehalten. Auf seinem Barett saß
eine Gänsefeder. An seinem verschossenen Sammetwamms
hing am Gürtel, wie ein Dolch, eine Tintenkugel. Seine
Haare "wallten" (ohne dies Wort giebt es kein deutsches
Gedicht) ihm strähnenartig um das magere Gesicht in den
Nacken. Sein Volk hatte ihm beim Stoßen über die Alpen
die Hände vorne gefesselt. Auf seinem Rücken hatte es ein
Spottbild aufgeklebt: Auf einem grellgemalten Vollmond
saß ein Vögelchen, das wahrscheinlich die berühmte deutsche
Dichternachtigall vorstellen sollte.
Und Alles lachte, lachte,
lachte, und ich lachte, unbändig
roh, aber es war zu erschütternd komisch, mit. Und
dann entschwand unsern Augen der langsam gehende, finster
vor sich hinblickende "deutsche Dichter". Er war heimatslos
geworden.
Detlev
von Liliencron . 1844 - 1909
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