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Detlev von Liliencron
Neue
Gedichte . 1. Auflage 1893
Das Genie bricht sich Bahn
Es war ein reicher Mann,
Er war von altem Adel,
Den ganzen Lebensweg
Hielt er sich ohne Tadel.
Erzogen ist er gut,
Streng wachten seine Lehrer,
Und auf dem Tugendpfad
Ward er kein Gassenkehrer.
Dem Staate dient er treu,
Focht tapfer vor dem Feinde,
Dann zog er sich zurück
In seine Gutsgemeinde.
Der Orden Stufensteig
Erklomm er con amore,
Er wurde Kammerherr,
Er saß im Templerchore.
Er nahm sich auch ein Weib,
Erzeugt ein Dutzend Kinder,
Wie jeder fixe Kerl,
Ob Schuster oder Schinder.
Fromm bleibt er bis zuletzt,
Aus innrer Herzensneigung;
Daß er der Kirche Freund,
Fand nie bei ihm Verschweigung.
Er hat sein' Last, sein Teil,
Wie jeder Erdenbürger,
Auch ihm sind Gram und Kreuz
Die beiden wackern Würger.
So schritt er mühelos
Auf glatt gelegten Bahnen,
Und stieg mit Fackelpomp
Hinunter zu den Ahnen.
Kennt ihr der Menschen Buch?
Schlagt nach im Wortregister,
Er blieb im Mittelmaß,
Ein gründlicher Philister.
Es war ein armer Mann,
Am Scheunenthor geboren,
Der einen Vater nie,
Die Mutter früh verloren.
Als Knabe, unbewußt,
Sehnt er sich schon nach Sternen.
Das Dorf verzweifelt schier,
Er kann das Mähn nicht lernen.
Er hütet Schaf und Kuh
Auf einsam stiller Weide,
Er dichtet, sinnt und spinnt
Auf seiner großen Haide.
Er hälts nicht länger aus,
Er muß dem Frohn entweichen,
Ein Künstler will er sein,
Die höchste Höh erreichen.
Nun schüttelt ihn die Welt,
Nun schüttelt ihn die Liebe,
Die Mütze sitzt ihm schief
Vor zügellosem Triebe.
Entzückt hat ihn Marie,
Lisette, Margot, Jette;
Die Menschen sind entsetzt
Ob solcher Minnekette.
Zum Himmel schaut er auf,
Er kanns, er kanns nicht glauben,
Er schreit zu Gott empor:
Laß mir mein Herz nicht rauben.
Gedanken werden wach,
Fleißig ist er geworden.
Doch wie er strebt und ringt,
Der Hunger will ihn morden.
Was helfen Fleiß, Genie,
Wenn Armut ewig, Sorgen -
Er knüpfte sich den Strick
An einem Frühlingsmorgen.
Detlev
von Liliencron . 1844 - 1909
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