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Detlev von Liliencron
Neue Gedichte . 1. Auflage 1893



Die Vorüberfahrt

Bei Köln, in einem Schlosse,
Fand im Geschlechtsarchiv,
Vergessen und vermodert,
Ich einen Minnebrief.

Lateinisch war die Sprache;
Auf blauen Grund gemalt,
Hat schon Elfhundertneunzig
Die goldne Schrift gestrahlt

Den Inhalt übersetzt' ich,
Als wär' es heut geschehn,
Als hätt' ich, ein Moderner,
Es selbst erlebt, gesehn.

Ich hatt' ein liebes Mädel,
Ein muntres süßes Ding:
War mir davongeflattert,
Ein loser Schmetterling.

Nun trug ich große Schmerzen.
Ging ruhlos hin und her,
Und meiner Seelen Qualen,
Die wurden fast zu schwer.

An einem Frühlingstage,
In Glanz und Maienschein,
Harrt Haupt an Haupt die Menge,
Erwartungsvoll, am Rhein.

Mit wart' ich im Gewühle,
Heinrich der Kaiser fuhr,
Der sechste seines Namens,
Zu Thal die feuchte Spur.

Schon nähert sich der Drache,
Der den Gebieter trug.
Der furchtbare Hohenstaufe
Träumt finster vorn am Bug.

Die Arme unterschlagen,
Im offnen Scharlachzelt,
Wägt tief er in Gedanken,
Wie er bezwingt die Welt.

Er zuckt mit keiner Wimper,
Er rührt sich nicht vom Fleck.
Das schweigende Gefolge
Steht wie gelähmt auf Deck.

Wohl hundert Barken folgen,
Bewimpelt und bekränzt,
Und die Trompeten jubeln,
Von Sonnenglanz beglänzt.

Wir schwenken unsre Tücher
Dem hohen Gast froh hin,
Wir werfen unsre Kappen -
Wer drängt sich vor mich hin?

Und im Gejauchz, im Lärmen,
Wer liegt an meiner Brust!
Und keiner hats beachtet,
Und keiner sah die Lust.

Der Großherr schwamm ins Ferne,
Des Volkes Flut verrann,
Sie aber schmiegt noch immer
Sich lachend an mich an.


  Detlev von Liliencron . 1844 - 1909






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