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Detlev von Liliencron
Neue
Gedichte . 1. Auflage 1893
Pietà
Wie kommt hierher Maria mit dem Leichnam?
Er liegt im Sand, am Ufer hart auf Muscheln,
Und unbegrenzt dehnt sich die See hinaus.
Der Abendhimmel zeigt Gewitterstimmung,
Und bis zum Wasserspiegel reicht die Wolke,
Die einzige, große, schwarze Wolkenmasse.
Ganz schwache Wellen, ohne Mützchen selbst,
Die träge spielen, spülen an den Strand,
Und lassen einen schmutzigen Schaum zurück,
Der längs der Küste wie ein Strich hinzieht.
Auf harten Muscheln liegt der Krucifixus.
Die Füße sind, die noch gekrümmten Hände
Mit weichem Tuch umwickelt, daß die Male
Der Nägel nicht, die schrecklichen, zu sehn.
Und über ihn neigt sich Maria hin
In ungeheuerm Gram, und kann es nicht
Und kann es nicht begreifen, daß wir Menschen
So schändlich ihren Sohn verraten konnten.
War er die Liebe nicht? War nicht sein Trieb,
Sein einziger Trieb auf seinem Lebenswege:
Versöhnung, Friede, Herzenslauterkeit?
"O Haupt voll Blut und Wunden", und Maria,
Mit ihren Thränen wäscht den Staub sie ab
Von seinem Antlitz; und mit ihren Fingern
Kämmt, trocknet sie den Bart vom Todesschweiß.
Am Horizont, wo nun die Sonne scheidet,
Die hinter dickem Dunste sich verbirgt,
Bricht Licht hervor, doch nur zurückgeworfnes.
Und dieses Licht ergießt sich übers Meer,
Und geht in Streifen schnell darüber hin,
Und trifft das Ufer und die Leidensgruppe,
Bis sich der Himmel plötzlich wieder schließt.
Ein Augenblick ists dunkelschwerer Nacht:
Da lodert in der Ferne, landeinwärts,
Ein Flammenchaos: Städte, Länder brennen,
Und wüstes Schreien, Lärm von Schwert und Schilden
Dröhnt her, und Roßgestampf und Kriegsmusik;
Und gen einander tobts: In Jesu Namen!
Die Sonne sank, die Dämmerung beginnt,
Ein linder Westwind hat sich aufgemacht
Und streichelt sanft den spitzen Dünenhafer,
Und kühlt die Augen unsrer lieben Frau,
Und küßt die Schmerzenszüge des Erbarmers,
Und giebt der Woge leichten Plätscherton,
Der sich verbündet mit dem leisen Weinen,
Das unaufhörlich auf den Heiland tropft.
Detlev
von Liliencron . 1844 - 1909
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