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Gedichte, Lyrik, Poesie

Heimat Welt
162 Bücher



Alfons Petzold
Heimat Welt . 1. Auflage 1913



Der Blinde

"Wenn es bei euch dunkel ist, wird es bei mir licht!"
So sprach der junge, blinde Bürstenbinder, der mein rechter Bettnachbar im Krankenhaus war.
Und ein Lächeln huschte über die krankhaften Kanten seines todgeborenen Gesichtes und machte es gütig und milde.
Wenn die große Sonnenlampe in der Mitte des Saales ausgelöscht wurde und die kühle Stille des Dunkels auf kochenden Gehirnen, stechenden Brüsten und fieberglutdurchwogten Adern lag, Träume, Gesundheit und Lebensfrische von einem Bett zum andern trugen und Husten und Stöhnen wie aus weiter Ferne kam, glänzte ein starkes Licht in der Seele des Blinden auf und machte sein Dasein reich an Bildern.
Unter seiner grobhaarigen Bettdecke, pultartig von seinen Füßen gestützt, lag ein mächtiger Foliant, dessen Blätter in Blindenschrift von der Geistesarbeit vieler Dichter und Denker erzählten und den tastenden Fingern des Bürstenbinders das Wort der Tat und der Schönheit übermittelten.
Oft streifte schon die erste Stunde des neuen Tages das Haus und ich hörte noch immer den leisen Raschellaut umdrehender Buchseiten und hie und da das gehauchte Murmeln des Lesenden, der eine besonders schöne Stelle vor sich hinsprach.
O, wie ich doch diesen Menschen, der tagsüber das Mitleid aller erregte, um diese heiligen Nächte beneidete, um seine Blindheit, die ihn doppelt dunkler Zeit in die strahlende Helle der Erleuchtung und des Weltverstehens führte, nach der ich Sehender vergeblich auf der Suche war und sein werde.
Er durfte ganz nahe beim Himmel stehen und dem "Lächeln der Götter" lauschen, das mir Sehenden versagt bleibt.
Denn er sah nicht den unermeßlichen Raum vor sich, der uns von dem anderen Reiche trennt, kein Schauen in eine ungeheure Leere erfüllte ihm die Seele mit Angst und feigem Entsetzen.
Lächelnd und sicher schritt er an den fürchterlichsten Abgründen vorbei, durchquerte schauerliche Wüsten, ging singend durch düstere Wälder und stand - vor Gott, der ihn umarmte.
Er konnte der Ereignisse des dichterischen Weltfühlens in seiner blinden Klarheit erfassen.
Kein Gegenstand warf seinen plumpen, erdrückenden Schatten auf die Erscheinungen, die auf der Bühne seines Bewußtseins emportauchten. Ihm klang nicht das Wort, das dröhnend und wütend den hohen Gedanken des Dichters erschlägt.
Er las Seelenteilchen von seinen Buchseiten herab, die lebendig waren und blieben.
Und weil er die schwarzen Worte nicht sah, so überstieg er fröhlich und ohne Mühe das Gebirge, das diese bilden und das wolkennäher ist als der Himalaya.
Dahinter fand er ein wundervolles, unermeßlich großes, unerforschtes Märchenreich.
Wenn ich ihn des Morgens ansah, lag noch der Glanz von diesem in seinen erloschenen Augenhöhlen.
Sechs Wochen blieb er mit mir im Spital, dann fuhr er irgendwohin zu entfernten Verwandten und starb dort, kaum zwanzig Jahre alt.
Gar oft gedenke ich seiner und flüstere vor mir hin:
"Wenn es bei euch dunkel ist, wird es bei mir licht!"


  Alfons Petzold . 1882 - 1923






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