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Gedichte, Lyrik, Poesie

Heimat Welt
162 Bücher



Alfons Petzold
Heimat Welt . 1. Auflage 1913



Der entlassene Sträfling

Steht da ein Mensch, fern der Straße, einsam auf einer Wiese.
Stünde er um die Zeit des Abenddämmers hier, so lehnte sein Schatten an der stahlgrauen Tannenmauer des Waldes.
Aber es ist Nacht.
Im Forst hängt ein Sturm wie ein Flughund auf einem Baum und heult.
Ganz hoch oben, im schiebenden Gewölk des Himmels baumelt ein Stern.
Gleich einer Kellerlaterne wirft er sein mattes Lichtlein in den Waldschacht und entzündet die rote Steinfackel eines mächtigen Fabrikschornsteines, auf den sein weißes Gesprühe fällt und der aus dem tiefen Tale zur Höhe der Bergwiesen und Wälder ragt.
Mit singenden Augen erfaßt der einsame Mensch auf dem Wiesenhang das riesige Feldzeichen der Industrie.
Sein kurz vorher noch frierendes Herz glüht in heißer Freude.
Nicht achtet er des Sturmes, der katzenartig auf seinen Rücken springt, nicht des schweren regenträchtigen Gewölkes, das auf ihn herabdräut.
Was kümmert ihn diese stürmische Nacht! Morgen früh wird er dort unten in der großen Zementfabrik Arbeit finden.
Von weither ist er gekommen, als er hörte, daß man hier Leute braucht zum Steinbrechen und Brennen und nicht viel fragt nach Herkunft und Vergangenheit des Arbeitsuchenden.
Nun wird er, der entlassene Sträfling, endlich ein Ziel für sein Wandern finden, das ihm nichts eintrug als Schmach, Demütigung, Hunger und wunde Füße.
Noch einmal grüßen seine Augen die winkende Riesenesse.
"Morgen früh."
Dann legt er sich in dem Schutz einer Scheuer zum Schlafe nieder. Die ganze Nacht hat es geregnet.
Hie und da fällt noch ein Wassertropfen aus dem sturmzerwirrten Haar einer schmalen Wolke auf die morgendliche Erde.
Der ausgewaschene Himmel glotzt mit seinem unbarmherzigen erstarrten Hellblau, das der Hornhaut des mordtiefen Auges eines Riesenfisches ähnlich ist, den zu Tale steigenden Wanderer an.
Der hat alles vergessen, was an seelischer Qual und körperlicher Not hinter ihm liegt, die mißtrauischen Blicke der Unternehmer, bei denen er um Arbeit vorsprach, das knurrende, beschimpfende Geräusch der Schlüsseln, die vor ihm Tür und Tor sperrten, die heißen, brennenden Straßen am Tage, die kalten, feuchten Lagerstätten der Nächte, die Roheit der Gendarmen, der Stadt- und Dorfvorsteher und den Hunger.
Jetzt trägt sein Herz die Wärme der Hoffnung durch die kühle Landschaft und sein Blick sagt zu jedem Arbeiter, den er auf dem Weg zur Fabrik trifft: "Kamerad, heut' ist ein feiner Tag, was! Brennt keine Sonne und man verdürstet nit beim Schaffen. Juhu, das wird ein gutes Arbeiten sein! Juhu!"
Und zieht er an einem vorbei, der ein wenig kränklich ausschaut oder gar schon alt und schwach ist, tröstet er ihn in der Stille:
"Brauchst keine Angst haben. Ich bin ein baumstarker Kerl, kann für drei arbeiten, wenns not tut, arbeiten, werd' dir schon helfen!"
Mit allen ist er schon gut Freund, wenn auch noch keiner mit ihm ein Wort gesprochen hat und ihn höchstens voll Neugier von der Seite anblinzelt.
Nur ganz in der Tiefe seines Lebens unter der Asche des Erinnerns glost die Furcht, wieder abgewiesen zu werden, zurück auf die Straße geschleudert, in deren Sand und Staub das Verbrechen brütet, und wenn er zufällig einen der ihn bekriechenden mißtrauischen Blicke faßt, glimmt der glosende Funke zu einer feurigen Lohe auf, die ihm Hirn und Herz in eine Glut des Entsetzens hüllt.
Aber nur auf einen Augenblick. Die Flamme der Angst sinkt sogleich zum versteckten Fünkchen zusammen, das in der Nähe der Fabrik sogar aus dem Herzen des arbeitsuchenden Mannes fällt und unter dem zukunftsfrohen Schritt seiner Füße verlischt.
"Bitt schön, Herr Portier, ich komm' um Arbeit anfragen!"
"So! Na, da gehn S' die Stiegen da 'nauf, im ersten Stock rechts. Steht eh auf der Tür >>Privatcomptoir<<. Der Herr Direktor ist g'rad kommen!"
Er nimmt zwei Stufen auf einmal und klopft mit zurückgehaltenem Atem an der bezeichneten Tür - -
"Herrrein!"
Die schweren "r" rollen über den ganzen Gang.
Die Angeln der Tür kreischen auf, so wie die Riegeln der Türen im Gefangenhaus kreischten.
Und der Mann weiß auf einmal, daß seine letzte Hoffnung auf Arbeit zuschanden wird, daß es ein Unsinn ist, den Herrn mit dem gelben Gesicht, der vor ihm an einem Schreibtisch klebt, darum zu bitten. Stolpernd kommen die Worte aus seinem Mund:
"Küß d' Hand, Herr Direktor - ich - ich - möcht' - gern um - a Arbeit bitten!"
"Arbeitsbuch!"
Dieses Wort, das der Direktor aus einer Wolke Tabakdampfes springen läßt, trifft den Bittenden wie eine erwartete Ohrfeige.
Geduckt, wie einer, der Prügel empfangen soll, reicht er das in Zeitungspapier eingeschlagene Arbeitsbuch in die Rauchwolke hinein.
Was nun kommt, ist ihm so unerträglich klar und bewußt, wie dem Himmel dort draußen seine wässerige Bläue.
"Ach! Sie kommen erst aus dem Zuchthaus - zwei Jahre wegen Totschlag. Hm! Hm! Ja, da muß ich bedauern, Sie nicht aufnehmen zu können. Die Rücksicht auf die Arbeiterschaft des Gewerkes verbieten..."
Während der Direktor so spricht, steigt vor den starren Augen des entlassenen Sträflings ein Bild auf:
Wie seine Mutter starb ...
In einem reinen, blühweißen Spitalbett, die sorgende Pflegenonne am Kopfende stehend, zu Füßen die weinenden Kinder. Und mit abgearbeiteten Händen den Frieden des Todes greifend. Voll Dankbarkeit für das Leben, das ihr immer an Arbeit genug gab, um Brot für sich und die Kinder zu erwerben.
Sein Sterben wird anders sein. Irgendwo in einem schmutzigen Inquisitenspital oder auf einem Misthaufen.
Mit einem verschämten Lächeln nimmt er seine Dokumente und geht.
Langsam ohne Gruß zur Tür hinaus und die Treppe hinunter. Auf der letzten Stufe beginnt er zu singen:

I bin da Turlhofer Hab' zwa Roß vurn Wag'n
von da Sunnseit'n, und a schwarze Kuah,
hab' zwa Gas im Stall saub're Mad'ln a
und a Habernleit'n. dö hab' i gnua.

Jodelnd schlenkert er an dem verdutzten Portier vorbei. Was braucht dieser Freßling sehen, wie armselig es in ihm ausschaut.
Wo die Straße ins Dorf biegt, lehnt er sich an einen Baum. Ihm ist entsetzlich zumute. Er glaubt nicht mehr weiter zu können. Der wühlende Hunger und diese wehe, zertretene Seele.
Ein armer Häusler, der eine Kuh zum Verkauf in die Stadt treibt, sieht den Mann an dem Baum lehnen, tritt herzu und fragt mitleidig:
"Is Enk vielleicht übel worn? Kommts, loahnts Enk auf mi, i weis' Enk ins Dörfel eini!"
Da springt ein furchtbarer grausiger Haß auf alles, was da leben heißt, in dem Herzen des entlassenen Sträflings auf. Er stößt das erschrockene Bäuerlein weit von sich:
"Trottel!"
Und läuft wie ein hasengieriger Hund über die Felder dem schwarzen Wald zu.


  Alfons Petzold . 1882 - 1923






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