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Gedichte, Lyrik, Poesie

Heimat Welt
162 Bücher



Alfons Petzold
Heimat Welt . 1. Auflage 1913



Die polnische Jüdin

Es ist nicht anders: Tritt dir ein weltbewegendes Gefühl, eine formenschaffende, alle Adern unseres Lebens durchsausende Leidenschaft in irgendeiner Gestalt in den Kreis deiner Alltagsteilnahmslosigkeit, dann wachst du auf wie aus einem bilderlosen Schlaf, staunst ob dieser gewaltigen Macht, die sich vor dir aufbäumt und fühlst erst, was es bedeutet, Mensch zu sein.
Eine sehr breite Straße. Tausende Menschen, Hunderte Wagen füllen ihren Raum.
Keiner sieht den anderen an. Vorwärts! Nur vorwärts! Es gilt Brot, Ansehen, tausend Nichtigkeiten zu erjagen.
Heisere Kutscherrufe, Räderknirschen, fliegende Grußworte und darüber das unbestimmtere Gesumme unzähliger Leute, die aus den Steinen der Häuser zu kommen scheinen.
Ich gehe einem Geschäft nach, das mir Brot für die nächsten Tage einbringen soll.
Meine Augen sehen vor sich eine Ziffernreihe - an den lebendigsten Dingen eile ich gesichtslos vorbei.
Alle meine Gehirnkammern sind verriegelt - ich lasse keinen Weltgedanken ein, er könnte ja meine mühsam gesammelten kaufmännischen Kenntnisse hinauswerfen.
In meinem Ohr höre ich nur die rechnende Stimme meines Geschäftsfreundes. Sätze springen aus meinem Mund auf die Straße - ich mache Proben, wie ich dort sprechen werde, wo es ums Brot gilt. Niemand kümmert sich um mein Selbstgespräch, alles ist selbst bis an den Rand voll Sorge.
Da bleibt auf einmal jemand vor mir stehen, Worte fallen in mein Herz, ein Weib hat mich angesprochen. Ich schaue es verständnislos an.
Es wiederholt:
"Ich bitt' Sie, guter Herr, wo ist Allgemeines Spital?"
Ihr Kleid ist armselig, aus seinen Falten weht der Geruch der Judengasse, in der das Elend jedes Haustor kennt.
"Kommen Sie, ich werde Sie bis zum Allgemeinen Krankenhaus begleiten."
Auf dem Wege erzählt mir das Weib seine Geschichte.
In irgendeinem Winkel einer Stadt in Galizien lebt sie mit ihrem Mann und fünf Kindern. Der Mann und zwei der ältesten Kinder sind als Hilfsarbeiter in einer Petroleumgrube beschäftigt; was diese verdienen, reicht gerade für Maisbrot, Kartoffeln und den täglichen Hering. Für das feuchte Loch, das sie im Judenviertel bewohnen, muß die Frau das zerfallene Haus reinhalten und dem Hausbesitzer, einem Trödler, die Magd abgeben. Die drei kleinen Kinder streichen tagsüber, die Obhut der schwerarbeitenden Mutter entbehrend, durch die Gassen. Eines Tages wird das jüngste, ein drei Jahre altes Mädchen, der Liebling der Familie, von einem tollen Hund gebissen. Was kümmert es die Behörde, daß ein armes Judenweib halb irrsinnig wird, weil man ihm sein Kind nimmt? Das Gesetz befiehlt: Ins Pasteur-Institut nach Wien. Woche um Woche verrinnt, es kommt keine Nachricht, wie es dem Kinde geht, alle brieflichen Anfragen sind vergebens. Die große Stadt, die das Kind verschlungen, bleibt stumm auf die Rufe einer angstvoll harrenden Mutterseele. Irgendein Kanzlist dort denkt sich: Ach was, ein Judenweib. Da setzt sich in der Mutter ein Gedanke fest: sie muß nach Wien zu ihrem Kind, und sie sagt es ihrem Mann. Der lacht trübe auf: "Eine arme Jüdin und Wien! Warum willst nicht gleich nach Paris?" Sie aber läßt nicht mehr los, verkauft ihr Federbett dem Trödler, spart sich vom Mund den Bissen Brot, sie weiß die Ihrigen so zu begeistern für ihren Plan, daß diese beschließen, keinen Hering mehr täglich zu essen, man streicht an den zuletzt gekauften zu jeder Mahlzeit das Brot und die Kartoffeln hin und her, so hat man eine ganze Woche den Geschmack von Hering im Mund, ohne einen zu essen, das kann man sich merken! Endlich ist so viel Geld zusammengerafft, als für die Eisenbahnkarte nach Brünn notwendig ist, den Rest des Weges geht die Mutter zu Fuß.
Sie ist mit ihrem Erzählen fertig.
Wir stehen vor dem Tor des riesigen Spitals. Mit überhastigen Worten bedankt sich das Weib und verschwindet in der Welle der Menschen, die in der gewaltigen Toreinfahrt auf und abflutet.
Ich stehe im lärmenden Wirbel der Straße. Eine Schallwelle überbäumt die andere, im engen Gedränge scheuert sich Mensch an Mensch, man stößt mich hin und her, ich achte es nicht. Irgendwo in mir ist festliche Freude aufgesprungen. Ich weiß wieder, daß es wert ist zu leben, das Judenweib hat mir gezeigt, wieviel Liebe, wieviel Kraft die Straße füllt.


  Alfons Petzold . 1882 - 1923






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