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Alfons Petzold
Totentanz
. 1. Auflage 1923
Die Krähe
Eine schwarze Krähe
hat in letzter Nacht
dicht in mein Nähe
sich ihr Nest gemacht.
Nun erfüllt ihr Krächzen
übertags mein Ohr,
wie ein traurig Aechzen
dringt's durch Tür und Tor.
"Sag' mir, Gast des Schnees,
dem die Kälte frommt,
warum solch ein wehes
Klagen aus dir kommt?"
Rückt der Vogel düster
auf dem Zaun heran,
schmerzliches Geflüster
fängt zu künden an:
"Mensch, dem die Gedärme
noch kein Hunger schlißt,
der in sichrer Wärme
vor dem Schreibtisch sitzt.
Mensch, bevor mich meine
Flügel hergeführt,
haben sie die Steine
einer Stadt berührt.
So wie Wolk' an Wolke
stand hier Haus an Haus
und aus grauem Volke
stieg ein Wortgebraus,
Höher, immer höher,
bis es zu mir kam
und ich schwarzer Späher
Schreckliches vernahm.
Ueber uns geschritten
ist der rote Krieg,
unter seinen Tritten
die Verzweiflung schwieg.
Aber nun der Grimme
ist im Blut erstickt,
sei des Elends Stimme
in die Welt geschickt.
Seht! An unsern Lenden
frißt des Hungers Gier,
Tausende verenden
hilflos wie ein Tier!
Alle, die einst lachten,
weinen Tag und Nacht,
Säuglinge verschmachten,
kaum zur Welt gebracht.
Was die Not als Beute
sackte nimmer ein,
hetzt des Winters Meute
in den Tod hinein.
Kälte schreitet eisern
durch der Gassen Reih'n,
schlägt in allen Häusern
Tür und Fenster ein.
Und nicht Holz noch Kohle
hemmt das weiße Weh,
mit zerriss'ner Sohle
stehen wir im Schnee.
Und der Tod hält wieder
ein besondres Fest,
denn durch unsre Glieder
fiebert heiß die Pest.
Hier, wo einst das Lachen
und der Tanz gelebt,
jetzt des Todes Drachen
seine Schwingen hebt!"
Schweigt die schwarze Krähe
in dem weißen Schnee,
doch in meiner Nähe
sehe ich ein Weh
turmhoch in den weiten
Horizont gestemmt -
Tränen fühl ich gleiten
aus mir, ungehemmt.
Alfons
Petzold . 1882 - 1923
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