Gedichte.eu Impressum    

Gedichte, Lyrik, Poesie

Extramundana
162 Bücher



Carl Spitteler
Extramundana . 2. Auflage 1905



Mythus

Schwarze Nacht verhüllt den stillen Luftraum
Und ein Leuchtthurm steht im höchsten Walde.

Arm in Arm gehängt, vertraulich flüsternd
Spricht daselbst der Astronom zum Schloßherrn:
"Allah, mein erlauchter Freund und Gastherr!
Zauberhaft je mehr ichs überlege
Kommt mir vor die Allgewalt der Zahlen,
Die doch einzeln für sich selbst genommen
Gänzlich nichts begreifen noch besagen,
Weder Sache weder Geist enthaltend
In dem dünnen, wesenlosen Körper,
Daß ihr Dasein gleicht dem nichtgen Schatten.

Aber wenn du nun die Dunstgebilde
Künstlich nach der Weisheit unsrer Lehrer
Durcheinander mischest und beziehest:
Welche ungeheure Kraft den Wahrheit,
Welche eiserne Gesetzesordnung
Giebt sich kund aus ihrem luftgen Munde!
Daß, was immer auch die Ziffern sagen,
Niemand, wär er noch so groß und mächtig,
Weder du, mein edler Fürst und Herrscher,
Weder selber Gott, der Herr der Geister,
Könnte streiten wider ihren Ausspruch.
Wenn dereinst der Luftkreis stürzt zusammen
Und ein jedes Leben wird vernichtet,
Geistesleben so wie Körperleben,
Wird doch nie der Zahlenwerth vergehen. -"

Ihm erwiederte der weise Allah
Wandernd auf des Leuchtthurms weißer Zinne:
"Mein verehrter Freund und Gast Almansor!
Wie im Alkoran die Schüler lernen,
Also lern ich stets aus deinem Munde,
Der, so oft er nur die Lippen öffnet,
Läßt entströmen einen Quell der Weisheit.
Aber wenn ich nun dein Wort bedenke
Muß, was ewig wird bestehn am Ende,
Anfangs ewig auch bestanden haben,
Also daß die Zahlen vor dem Luftraum,
Vor dem Licht und vor dem Himmelsäther,
Früher selber als die heilgen Engel
Müssen sein dem Gottes-Geist entsprungen.
Unzertrennlich mit ihm selbst verbunden,
Ausfluß seines gottgearten Wesens,
Das zum innern Gottes-Selbstbewußtsein
Aehnlich sich verhalten wird, zum Beispiel,
Wie der Leib zu eines Engels Seele;
Welcher zwar, von außen angesehen,
Uns erscheint als Form und fremde Maske,
Doch, geprüft nach seinem innern Werthe,
Sich erweist als von demselben Stoffe.
- Was zudem wir hier durch Schluß gewonnen,
Dieß bestätigt uns das fromme Denken:
Nämlich: Welche andre Art des Ausdrucks
Könnten wir dem Gottesgeiste leihen?
Alles würde da zu roh erfunden.
Denn das Wort, worauf wir rathen möchten -
Ist ein allzusinnlich-plumpes Weltkind,
Den Begriff zum Vater anerkennend
Und zur Mutter eine grobe Sache.
Oder wär es eher der Gedanke?
Doch auch er ist fleischlichen Geschlechtes,
Eng verwandt mit wörtlichen Begriffen,
Deutlich tragend ihr Familienzeichen.
Während umgekehrt die heilgen Zahlen,
Wie man auch sie peinlich untersuche,
Sind gereiniget von jedem Weltsein;
Nicht gereinigt bloß von jedem Weltsein,
Sondern rein mit lebensvoller Reinheit,
Welche, allgewaltig überfluthend,
Leuchtet durch den unbegränzten Luftraum
Bis zur tiefsten Seele des Gelehrten.
Spüren selber täglich doch die Wirkung:
Wenn wir, unsres eignen Ichs vergessend,
In die Zahlen unsern Geist versenken,
Ist es nicht als ström' aus unsrer Arbeit
Gegen uns zurück ein Geist der Gottheit?
Der die sündgen Triebe von uns fern hält
Und den Eigenwillen in uns tödtet,
Uns veredelnd mit erhabnem Fühlen
Und uns läuternd wie mit frommer Buße?
Hohe Fröhlichkeit erfüllt und stimmt uns
Schöner Stimmung gleich wie Saitenstimmen,
Gleich wie tönen aus der Engel Munde
Die verklärten himmlischen Gesänge,
Welche selber auch durch Zahlen schwingen
Abgezählter, scharfgemessner Schwingung."

Ihm entgegnete darauf Almansor,
Hastig schreitend auf dem weißen Leuchtthurm:
"Allah, mein erlauchter Freund und Gastherr!
Wahrlich, glücklich darf ich selbst mich preisen,
Daß ich lehr und diene solchem Herrscher,
Der anstatt in launenhafter Willkür
Und in körperlichem Wohlbehagen:
In der Weisheit sucht Gewinn und Ehre,
Dieß als Fürstenvorrecht nur begehrend,
Daß er uns Gelehrte übertreffe.
Aber wenn ich nun die Doppelrede,
So mein eigen Wort als deine Antwort,
Zueinander stelle und summire
Schau ich leuchten mit entzücktem Herzen
Eine wundersame Offenbarung:
Weil die Zahl entstammt dem Gotteswesen,
- Nicht in Zeit und Rathschluß einst geschaffen
Sondern ewig aus ihm selber quellend,
Wie du schön und trefflich mir bewiesen -
Welchen Rückschluß können wir gewinnen?:
Aehnlich wie ein körperliches Wesen,
Wenn sein Einzeldasein es behauptet,
Ist gemein und niedrig von Gesinnung,
Aber tugendhaft wofern es selbstlos
Gänzlich sich vergißt in seinem Nächsten,
Daß ein Jeder heißt um so vollkommner,
Als er inniger zu allen Andern
In Beziehung tritt und sich verwandelt,
Also muß auch Gott, der höchst Vollkommne,
Kraft der reinsten, selbstvergessnen Tugend
Leben einzig ein Beziehungsleben;
Nicht Beziehung von geschaffnen Pflichten,
Nicht von körperlicher Nächstenliebe,
Sondern wesenloser Selbstbeziehung,
Wie allein sie wohnt im Zahlenlichtraum.
Drum ist's auch ein hoffnungslos Beginnen,
Der Person der Gottheit nachzuspüren,
Rückwärts suchend nach der ersten Einheit,
Die doch niemals hat in ihm bestanden,
Weil er war von Anbeginn Beziehung.
Sondern wenn es einem Geist gelänge,
Daß er fände aller Summen Einheit,
Dann allein vermöcht' er Gott zu finden.
Eines Mals mit plötzlicher Erkenntniß
Würd' er schaun das wunderbare Schauspiel,
Wie, erhellt vom reinsten Geistes-Lichtglanz,
In dem mitternächtgen, sündgen Luftraum
Strahlt das Zahlendasein in dem Gottsein,
Herrlich aufgebaut aus ewgen Summen,
So mit kleinen, als mit heldengroßen,
Hier sich selber mit sich selbst verdoppelnd
Und zu Gottesengeln sich verdichtend,
Blendend weiß vom aufgehäuften Lichte, -
Dort sich scheidend und sich stets verkleinernd
Und in tausend Theilchen sich zerbrechend,
Mit sich selber auch den weißen Lichtglanz,
Schön gespalten in getrennte Farben.
Wer beschreibt mir das erhabne Schauspiel
Wie es schwebt vor meines Geistes Ahnung?
Wer auch malte mir die Himmestöne,
Die in tausendstimmgen Harmonieen
Läuten wie mit Silber-Glocken-Läuten?"

Also sprach Almansor, der Gelehrte.
Aber als er kaum den Spruch geendet
Stille stand vor ihm der weise Schloßherr
Und betrachtet' ihn mit scharfem Willen.
Warum ist so klar des Schloßherrn Antlitz?
Ist's der Wiederschein der goldnen Krone,
Die er trägt auf seinem jungen Haupte,
Oder strahlt der Glanz aus seiner Seele?
Plötzlich faßt' er seines Freundes Arme
Und begann mit sicherem Befehlen:
"Wohl, so laß uns nunmehr fleißig rechnen,
Bis die Gottessumme wir gewinnen."
Bleich vor Schrecken wich zurück Almansor
Rief und sprach mit bittendem Ermahnen:
"Allah mein erleuchter Freund und Gastherr!
Wehre deinem frevelhaften Vorsatz,
Weil er jung noch ist und schwach an Kräften
Eh er durch ein längeres Verweilen
Sich vielleicht verstärkt und sich verhärtet
Unzugänglich jeglicher Belehrung.
Sieh nicht schwer allein und höchst verwickelt
Ist die Rechnung, ja beinah unmöglich,
Sondern sündhaft auch und sehr gefahrvoll.
Denn ein Gegengeist besteht im Weltall,
Welcher in die Gott geweihten Zahlen
Hat geworfen eine böse Ziffer
Streitend wider alle andern Ziffern
Und mit ihren schwarzen Zauberkräften,
Unheil stiftend und die Ordnung störend,
Nicht mit offner redlicher Gewaltthat,
Sondern feiger tückischer Gesinnung,
Sprunghaft an Gebahren, unvermuthet
Stets an einem andern Ort erscheinend,
Daß sich Niemand kann vor ihr behüten.
Hat auch überdieß der Geist der Unruh
Ungefähr dieselbe Summeneinheit,
Wie die heilge Gottes-Summeneinheit,
Wenge Zahlen nur von ihr verschieden
Und in ihrer Nähe tückisch lauernd;
Also daß beim kleinsten Rechenfehler
Es geschehen kann durch einen Zufall,
Daß anstatt des reinen heilgen Gottes
Wird geboren ein verfluchtes Weltall,
Ewig zwar und riesig wie der Luftraum,
Aber ungeordnet und verworren
Selber sich mit grimmen Haß bekämpfend,
Nicht mit schattenlosen Geisteswaffen,
Sondern grauenvoll mit Stein und Eisen,
Nicht mit schöngemessnen Harmonien,
Sondern mit Geschrei und Schmerzensmißklang,
Statt des weißen Lichtes blutend Feuer.
Ahntest du von ferne nur das Schauspiel,
Wie von diesem bis zum andern Ende
Ist der ungeheure schwarze Luftraum
Dicht belebt von häßlichem Gewimmel,
Dumm und plump mit unvernünftgem Lärmen,
Könntest nimmer du das Werk beginnen,
Würdest, krank vor Ekel und Entsetzen
Jeglichem Versuche streng entschwören
Und vor Sündenschuld dein Herz bewahren."

Aber wie er auch die Reden baute,
So mit Schelten als mit weichem Bitten
Nimmer konnt' er Allah doch bekehren,
Welcher ohne Wort und ohne Antwort
Ruhig nur beharrt auf seinem Willen. -

- Und so gingen denn die zwei Gelehrten
Endlich an die frevelhafte Arbeit,
Rückten Tischchen auf den weißen Leuchtthurm,
Riefen auch zur Stelle die Gehilfen
Und begannen die erlauchte Rechnung,
Emsig schreibend in die Almanache
Und beim Zauberlampenschein die Zahlen
Mit dem Wunderspiegel Alkabala
Projicirend auf den schwarzen Luftraum,
Oefters auch die Denkeraugen schließend,
Oder mit der Hand die Schläfe stützend.

Jedesmal nach einem größern Schlusse
Reichten sie die Blätter den Gehilfen,
Welche, jeglicher an seinem Tischchen
Hell beleuchtet von besondern Lämpchen
Schweigend den Gewinn ins Reine schrieben
Mit geheimer Alchymistentinte
Lustig kratzend mit den scharfen Federn;
Brachten dann die Reinschrift zur Alhambra,
Wo ein Dutzend Hof-Alkalligraphen
Jetzt das vielverwickelte Verhältniß
Malten auf ein riesiges Papierband
Schön mit prächtigen Alkali-Farben.
Trugen wieder den gemalten Streifen,
Sorgsam mit emporgehobnen Händen
Kettenweise durch die Ringeltreppe,
Aufwärts nach des Leuchtthurms weißer Zinne
Und mit demuthvollem Allahrufen,
Uebergaben sie das Band zur Prüfung,
Ausgebreitet im gebognen Arme.
Und Almansor an dem Einen Ende,
Allah an dem andern sachte ziehend,
Streckten sie und lasen sie die Rechnung
Und versuchten ihre Zauberwirkung;
Emsig spiegelnd in dem schwarzen Luftraum,
Ob vielleicht das Wunder sich ereigne.
Aber niemals wollte sich's ereignen,
Blieben immer todtgeborne Zahlen,
Zierlich zwar gemalt mit rother Farbe,
Auch mit vieler Weisheit ausgeklügelt,
Außerdem von staunenswerther Menge,
Aber ähnlich jedem andern Zahlspiel,
Leer von jeder Gottesoffenbarung,
Ohne Engel, ohne Farbenbrechung,
Ohne die entzückenden Gesänge,
Ohne jegliches besondre Schaustück.

Muthlos ließen sie die Hände sinken;
Mochten dennoch nicht dem Werk entsagen,
Sondern über einem langen Schweigen
Schritten sie von neuem an die Arbeit
Erst verzweifelt und mit tiefem Seufzen,
Später ruhiger und fromm ergeben,
Wieder später mit geheimer Hoffnung,
Endlich mit verklärten Siegesblicken.

- Also thaten sie in alle Zeiten,
Sich gewöhnend an das Mißgelingen,
Sich gewöhnend auch zum Wiederanfang,
Bis sie endlich kaum des Ziels gedachten
Meistens nur gehorchend der Gewohnheit.


2.

Eines Tages so wie alle Tage
- Müde saßen sie ob ihrer Arbeit
Einzig rechnend für das Pflichtbewußtsein -
Eben als gedankenlosen Zufalls
Allah eine Ziffer schrieb ins Album,
Plötzlich sprang die Summe aus dem Album,
Eines einzigen gewaltgen Sprunges.
Ausgelöscht und weiß erschien das Album.
Bleich von blasser Angst erhob sich Allah,
Weil die Andern, schauend seine Krankheit,
Stießen heftig um die vielen Stühle,
Ihm zu helfen und ihn zu befragen.

Aber während sie so herwärts eilten -:
- Welches Wunder blickt vom schwarzen Luftraum?

Riesengroß in ungeheuren Zahlen,
In sich schließend den gewölbten Luftkreis,
Steht dieselbe Summe aufgeschrieben,
Wie sie aus dem Almanach gesprungen.
Blickt herab mit fürchterlichen Augen
Während aus dem mitternächt'gen Urwald
Eine blutigrothe Höllen-13
Jetzt mit grimmig aufgesperrtem Rachen
Kommt die Zahlen alle zu verschlingen,
Eine um die andre langsam fressend,
Immer schwellend an dem runden Bauche
Bis die letzte war im Schlund verschwunden;
Wo sie alsdann ruhig wiederkäuend
Einsam eine Weile lag im Luftkreis,
Der allmälig aus den runden Winkeln
Sich verwandelte in lodernd Feuer
Röther stets an Farbe sich gestaltend
Bis in Blut die 13 war ertrunken.

Jetzt im Mittelpunkt des großen Blutmeers,
That sich auf ein unvernünftges Kreischen,
Gleich dem Kreischen vieler tausend Katzen;
Aus dem Kreischen ward ein gähnend Heulen
Gleich wie Wölfe und Hyänen heulen;
Aus dem Heulen drauf ein gräßlich Schreien
Und mit markerschütterndem Gesange
Wächst hervor vom fernsten Hintergrunde,
Eine gottverfluchte schwarze 7.

Wächst an Körper wie an Riesenstimme
Bis ihr Teufelsantlitz stößt zum Himmel
Und der Stachel des gekrümmten Schweifes
Zittert drohend im Nadir des Urwalds.

Als sie dergestalt nun ausgewachsen,
Nicht im Felsenthal der Donnerwettkampf,
Nicht der Einsturz von Metallgebirgen
Darf an Wuth dem Brüllen sich vergleichen,
Wie da brüllt die ungethüme Unzahl.
Von dem Brüllen wankt und bebt der Luftkreis
Und das Blutmeer schäumt mit giftgem Zischen.

Aber auf dem Leuchtthurm die Gelehrten
Hielten sich zum Knäuel fest umschlungen,
Leblos von Gebärden und von Mienen,
Außer daß sie wimmerten vor Schrecken.
Mußten gleichwohl schauen nach dem Scheusal,
Wie man schauen muß zur Faust des Arztes.
Schauten also immer treu und fleißig
Bis mit unvermuthetem Ereigniß
Lauten, sinnbetäubenden Gewaltstreichs
Jäh verschwand die gottverfluchte Brüllzahl;
Doch nicht spurlos, nicht zu Heil und Nutzen,
Sondern lassend ein gefülltes Weltall,
Welches nun mit häßlicher Verwirrung
Klein und groß gehackt in garstgen Massen
Zwischen Blut und Rauch und Feuerflammen
Wirbelnd durcheinander sich bewegte,
Siebenförmig von Gesicht und Mißwachs,
Siebenartig nach dem innern Wesen,
Siebentönig auch an falschem Mißklang,
Daß vom Kreischen bis zum Donnerbrüllen
Jeder Mißton treulich blieb vertreten.

Sieh, was schwebt vom Alzenith hernieder,
Parallactisch wie auf Engelsflügeln?
Sanfte Aethernebel quellen abwärts,
Hinterm Aethernebel Farbenwolken,
In den Farbenwolken eine 3-Zahl,
Weiß und hart wie Schneekrystall und Demant,
Licht geflügelt wie mit Bienenflügeln.

Fliegt hernieder zum verfluchten Weltall,
Welches vor der feindlichen Erscheinung
Sich beginnt zu sträuben und zu winden,
Wild erregt zugleich von Furcht und Ingrimm,
Daß der Teufelsbrei in seinem Leibe
Leidenschaftlich durcheinander siedet
Und aus all den hunderttausend Poren
Dampft der Angstschweiß in gewaltgen Wolken.

So empfängt die Schlange einen Habicht
Oder eine sieggewisse Katze.
Alle Knoten des geschmeidigen Leibes,
Von dem Halse bis zur Schwanzesspitze,
Sind in hastig drehender Bewegung,
Jeder fliehend vor der scharfen Wunde
Und den Neben-menschen vor sich schiebend,
Weil der Lügenkopf, vor Schrecken fauchend,
Spiegelficht mit seiner Höllenmaske.

Doch die stolze Zahl mit zorn'gem Antlitz
Achtete für nichts die heftge Abwehr,
Nahte stätig dem verhaßten Feinde
Bis sie über seinem Haupte schwebte.
Hier mit eingekrümmtem Hinterleibe
Gleich der Wespe, die zum Stich sich rüstet,
Ruht' und zielte sie ein kleines Weilchen,
Stieß dann plötzlich nieder in das Weltall,
Wuthentbrannt mit grimmigem Entschlusse
Ganz und gar im Feinde sich versenkend.
Ei wie zischte da das Teufelsweltall!
Ei wie braust' es auf mit gellem Pfeifen!
Konnte doch sich nimmermehr befreien,
Ewig saß die Feindin ihm im Herzen,
Welche unverletzlichen Charakters
Kräftig hin- und her-wärts sich bemühte,
Immer streitend und sich heiß ereifernd.

Wo die 3-Zahl irgend ward gesehen,
Wurde ruhiger das wilde Wesen
Und gemäßigter die Rundbewegung;
Auch entstand in seltnen Ausnahmsfällen
Hie und da ein kleiner Geist der Gottheit
Und von lichten reinlichen Gesängen
Tönte dann und wann ein schwacher Wohlklang,
Hörbar nur in allernächster Nähe,
Gleich dem Sänger, wenn er für sich selber
Leise summt ein schöngeformtes Liedchen.

Konnte freilich nicht die Welt erlösen,
Uebermächtig blieb die schlimme Sieben,
Daß die seltnen göttlichen Gebilde
Wurden allseits giftig angefallen,
Schwerlich unter ungezählten Leiden
Rettend ihre dreigeschaffne Seele.

Aber auf dem nachtumhüllten Leuchtthurm
Ward ein ängstlich Jammern und ein Laufen,
Wollten heilen ihren kranken Schloßherrn,
Der für todt mit leichenblassem Antlitz
Und geschlossnen Augen lag am Boden.
Kaum vermochten sie mit vielen Salben
Und mit Beten und mit lauten Rufen
Zu erwecken sein entschwunden Leben.
Als er endlich dann die Augen aufschloß,
Starren Blickes schaut' er nach dem Weltall
Und die Haare standen ihm zu Berge.

Da begann mit mildem Trost Almansor:
"Mein erlauchter Freund und Gastherr Allah,
Laß uns nun nicht ganz und gar verzweifeln,
Noch besteht uns eine kleine Hoffnung:
Siehe, da wir doch durch schlimmen Zufall,
Wie durch unsre schlechtbelehrte Rechnung
Haben hergeführt das Teufelsweltall,
Sollt' es weniger vielleicht gelingen,
Daß wir wiederum das Werk vernichten,
Rückwärts rechnend mit gebrochnen Zahlen?
Müssen eben aus der Weltensumme
Ziehn den differenten Integralen
Bis wir die ersehnte o erreichen.
Lange Zeit und Mühe wird das kosten
Aber denkbar ist's und nicht unmöglich."

Ei wie sprang der Herrscher auf die Füße!
Faßt' Almansor stürmisch in die Arme
Und begehrte heftig nach dem Anfang.

Dieser ordnete das Unternehmen
Jedem schenkend seine eigne Arbeit,
Setzte die Gehilfen an die Tischchen
Und beschäftigte die Kalligraphen,
Hielt sich überdies besondre Boten
Immerfort zur Hand, damit er eiligst
Wenn er eines Fehlers sich besänne
Ihn verbessern lasse durch die Schreiber.

Selbst jedoch mit Allah seinem Freunde
Ging er ewig um den runden Leuchtthurm,
(- Denn die Ungeduld verbot das Sitzen -)
In der Rechten haltend ihre Griffel
In der Linken ihre Alkalender,
Schritten also unaufhörlich rechnend,
Immer gleichen Abstands sich verfolgend,
Jeder einen abgemessnen Zeitraum
Schauend nach dem wüstbewegten Weltall
Und die Summen hastig sich notirend
Um dann auf des Leuchtthurms Gegenseite
Zu durchdenken die notirten Zahlen.
Allah auf dem Haupt die goldne Krone
Doch Almansor mit Gelehrtenbrillen
Wundersamen künstlichen Characters,
Ebenso geschickt zu scharfer Durchsicht
Als mit mattem Glanz das Auge schonend,
Hatten auch verschiedentliche Gläser
Jegliches von einer andern Höhlung;
Fünfzehn Gläser bogen sich nach außen,
Doch die andern waren eingebogen.

Also suchten sie den Integralen.


  Carl Spitteler . 1845 - 1924






Gedicht: Mythus

Expressionisten
Dichter abc


Spitteler
Extramundana
Schmetterlinge

Intern
Fehler melden!

Internet
Literatur und Kultur
Autorenseiten
Internet





Partnerlinks: Internet


Gedichte.eu - copyright © 2008 - 2009, camo & pfeiffer

Mythus, Carl Spitteler