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Schmetterlinge
162 Bücher



Carl Spitteler
Schmetterlinge . 2. Auflage 1907



Blaues Ordensband

Als ich einst an einem Wildbach ging den Berg hinauf geschritten
Und, ein Marschlied vor mich summend, maß den Weg mit festen Tritten,
Sah an einer glatten Stange, noch vom Morgentau benetzt,
Ich zwei eisengraue Flügel wie ein Dach darauf gesetzt,
Und mit fröhlichem Erstaunen unter dem bescheidnen Stahl
Merkt' ich an den untern Decken einen düstern blauen Strahl.

Aller Arten Schmetterlinge hatt' ich Jahr für Jahr gesucht,
Sämtlich waren sie versammelt, schön gezeichnet und gebucht;
Einzig drei der edlen Vögel hatten mir annoch gefehlt,
Die ein eigensinn'ger Zufall meinem Jägerblick verhehlt.

Sollen wir das Tierchen drücken? Nein, sein Kopf ist dick und breit.
Ihm die Qualen zu ersparen reut mich weder Müh' noch Zeit.

"Lieber Doktor, habt Erbarmen, kocht mir ein erprobtes Gift,
Daß der Tod das arme Vöglein ohne Schmerzen plötzlich trifft."

Doch der Doktor war ein alter Homö- oder Allopath,
Der in seiner Salbenküche Gift allein für Menschen hat.
Und ich stand und mußte spüren, wie es von dem Pfuscher litt,
Mußt' auch spüren mein Gewissen, wie es strenge mit mir stritt:

"Einer ist, der einst wird richten Tier' und Menschen einerlei!"
Und ich sprach mit düstrem Mute: Gebe Gott, daß Einer sei.

Als es dann nach langem Zucken endlich vollends ausgerungen
Und aus dem gequälten Leibe sich die Seele losgezwungen,
Und ich wieder längs dem Wildbach schritt bergan dieselbe Straße,
War mein Lied von andrem Tone und mein Tritt von andrem Maße.
Vogelsang und Wald und Himmel schienen meinen Blick verdorben
Und mir war, als wäre heute mir ein lieber Freund gestorben,
Und mit gramumwölkter Seele naht' ich nochmals jenen Stangen,
Wo ich jüngst zu meinem Unglück sah das arme Tierlein hangen.
"Hätt' ich bloß an dieser Stelle mich durch Zufall links gekehrt,
Wär' mein Herz gesund und heiter, mein Gewissen unversehrt."

Und des Mittags auf dem Berge schmeckte mir nicht Fisch noch Wein,
Und am Himmelsrand die Alpen trübt' ein grauer Nebelschein,
Und im Kursaal die Sonaten klangen hart und matt und stumpf,
Und des Nachts im kühlen Zimmer war mein Kissen heiß und dumpf.

Werd' ich heut' den Schlaf nicht finden und Vergessen und Vergeben?

Sieh', da schaut' ich aus dem Winkel einen Traum sich groß erheben:

Dicht verschleiert eine Jungfrau schwebte mit getragnem Tritt
Ernst und ruhig an mein Lager, wo ich Seelenqualen litt,
Legt' auf meine heißen Schläfen eine kühle Engelshand
Und mit Singen und mit Beten sühnte sie den Höllenbrand:
"Laß das Grämen, laß das Härmen! vielgeplagter Menschensohn,
Hab's vollbracht und überstanden und bezahlt den Erdenlohn.
Ob ich schon durch dich gelitten, litt' ich's nicht durch deine Schuld.
Leiden ist des Lebens Mitgift, ist des Weltenschöpfers Huld.
Qualen jeglichem Geschöpfe schenkt die gütige Natur,
Aber Mitleid und Erbarmen blüht im Menschenherzen nur.
Habe Dank für deine Tränen, die du meinem Schmerz geweint,
Ewig bleibt das arme Vöglein dir verwandt und dir vereint.

Und wenn einst erklingt die Stunde, da auch du den Sieg erstritten
Und nach angsterfüllten Nöten hast das Sterben ausgelitten,
Wollen wir vereinten Wandels einen strengen Richter suchen
Und sein heil'ges Urteil segnen und dem Weltendichter fluchen.
Doch nun schüttle dir vom Herzen, was dir unnütz Reue schafft,
Und für deine eignen Leiden sammle Mut und neue Kraft."

Sprach's und küßte meine Stirne, betete und war verschwunden.
Bald durch ihre reine Gnade hatt' ich süßen Schlaf gefunden.
Als der Morgen schien durchs Fenster, war ich meines Kummers frei,
Doch bis heut' in meiner Sammlung fehlen mir die andern zwei.


  Carl Spitteler . 1845 - 1924






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