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Schmetterlinge
162 Bücher



Carl Spitteler
Schmetterlinge . 2. Auflage 1907



Distelfalter

("Belle dame". Vanessa cardui)

Gewitterwolken hingen dumpf und schwer und düster
Nieder ins Tal; es sammelte die finstre Luft
Mit fahlem Glanz sich drohend um die Felsenkluft,
Und durch den Hochwald zog unheimlich ein Geflüster.

Ein Ruck - ein Stoß - und an des Städtchens Turm
Jagte der fegende Sturm
Mit wirbelndem Lauf
Haushoch den weißlichen Staub hinauf;
- Und jählings über die Dächer hin
Stob mit verzweifeltem Flug
Von Distelfaltern ein unendlicher Zug.
Voran Vanessa, ihre schöne Königin.
Das Windes Gewalt
Trieb sie ans Ufer. Da machten sie ängstlich Halt.

Aber in ihrem stolzen Sinn
Befahl Vanessa, die schöne Dame, die mutige Königin:
Seht ihr dort drüben am fernen Strand
Im Sonnenschein glänzen das blumige Land?
Wohlan denn, ihr Herren und Ritter zumal!
Wir haben keine Wahl;
Dahinten droht sichrer Untergang,
Vorwärts! heißt des Tapfern Ehrengesang!

Verlegen schwiegen die Ritter und Herr'n,
Sie wagten es nicht, das Land schien zu fern.
Und wieder begann die Verführerin,
Die schöne Frau, die stolze Königin:
Ihr Ritter zumal und edlen Herr'n,
Vernehmt mein Gebot: ist einer unter euch, den es dünkt Gewinn
Mich zu frein, und mag einer gern
Küssen und minnen diesen schönen Leib:
Mir nach, dem ersten ergeb' ich mich zum Weib.

Hei, wie flog mit begierigen Arm
Übers Wasser dahin der begeisterte Schwarm!

Schon hatten den halben Weg sie vollbracht,
- Ans Ziel zu gelangen dünkt ihnen gering -
Da umhüllte sie plötzliche Nacht.
Und mit diamant'nem Siegelring
Eine Riesenhand
Mit zorniger Gebärde
Schlug dreimal zuckend nach der Wolkenwand.
Ein lodernd Flammenband
Umschlang züngelnd die Erde,
Und des Himmels gewaltiges Haus
Wankte, barst und brach in den See.
Aufschäumten und spritzten die Wogen.
Und ein Höllengraus
Von Regen, Hagel und Schnee
Im rasenden Orkan
Kam brüllend dahergezogen.

Das Distelvölklein zu ihrem Mißgeschick
Traf er auf seiner Bahn.
Kaum faßt' er sie an,
Da war es in einem Augenblick
Um all' die tausend armen Vöglein getan.

Zerschmissen und zerrissen,
Von Angst gehetzt,
Vom Regen gepeinigt,
Vom Sturm zerfetzt
Und vom Hagel gesteinigt,
Wirbelten sie hundertweise
In rötlichen Flocken
Nach der Flut, den Möven zur Speise
Und den Fischen zum Brocken.

Einzig von allen Schmetterlingen
Vanessa, weit vor den übrigen her
Getragen von ihren herrlichen Schwingen,
Besiegte das brandende Meer.
Und wie sie nun kam an den sonnigen Gau,
Wo die Bächlein sprangen und klangen
Und die Blumen blühten und glühten
Und über den Wald gezogen
Hing lächelnd der Regenbogen,
Da ruhte die schöne Frau
Im Dornengebüsch und spähte hinab auf die Wogen.

Und siehe da, ein unglückseliger Wurm
Von Distelfalter, dem der Hagelsturm
Flügel und Brust zerschlagen, kam mit Not
Endlich ans Ufer. Kaum erreicht er das,
Fiel er ohnmächtig auf das weiche Gras.
Dort lag er und erwartete den Tod.
Und seufzend betet' er in seinem Sterben:
Vanessa, du harte Königin,
Du falsche, du holde Verführerin,
Du schöne Dame!
Gebenedeit sei dein Name!
Und deinem wunderbaren Leib,
Du unvergleichlich Weib,
Jetzt und in alle Ewigkeit
Sei Ehr' und Anbetung geweiht!
Um deine Huld und Minne wollt' ich werben,
Nun muß ich kalt und fern von dir verderben.
Doch gerne wär' ich tausendmal gestorben,
Hätt' einen einz'gen Blick von dir ich mir erworben.
Was bleibt nun mir Ärmstem in dieser Schmerzensstund'?
Dich zu lieben, dich zu segnen aus tiefstem Herzensgrund!

Sieh' da, was gleitet von den wonn'gen Hügeln
Im Elfenkleid, auf farbensonn'gen Flügeln,
Blumig und feengleich, mit luft'gen Schatten,
Schwebenden Laufes durch die duft'gen Matten?

Bei diesem Anblick, Minnehochzeit witternd,
Reckt er die Fühler. Und mit letzter Kraft
Die wunden Flügel schlagend, stürtzt er zitternd
Vor heißer Gier und süßer Leidenschaft
Sehnsüchtig durch die Lüfte: ihr entgegen.
Ein Hauch, ein Kuß, ein jubelndes Entzücken,
Ein Seufzen, Herzen, Schmeicheln und Zerdrücken,
Darauf ein jähes, stürmisches Erregen:
Entschwunden waren Berg und Tal und Himmel;
Ein Glühn und Sprühn, ein glänzendes Gewimmel
Von Blitz und Strahl, ein goldner Purpurregen
Umfing sie. Taumelnd auf den frohen Wegen,
Abwärts und aufwärts an den hohen Stegen
Vollzogen blindlings sie im Doppelkreise
Innig und minnig ihre Hochzeitsreise.

Dann starb er. Aber stolz und hehr und prächtig,
Von Kummer satt, von Liebe schwer und trächtig,
Umflog sie einsam jetzt die waisen Fluren.
Wen spürte sie auf ihren leisen Spuren?
Sie spürt' ein Leben, Beben und Bewegen,
Den Welten-Fluch, durchweint von Gottes Segen.


  Carl Spitteler . 1845 - 1924






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