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Schmetterlinge
162 Bücher



Carl Spitteler
Schmetterlinge . 2. Auflage 1907



Hera (Hexe)

Im Steinbruch jeden schönen Tag
                    zur Sommerszeit ist Karneval.
Da halten rotgescheckte Narrn
                    gar einen sonderbaren Ball.

Inmitten steht von Schutt und Sand
                    ein Wall und auf dem Wall ein Thron,
Bekränzt mit Nesseln und verblümt
                    mit Disteln, Pfefferminz und Mohn.
Darinnen sitzt das Sonnenweib,
                    und wenn von fern im Morgenglanz
Durchs Korn der Glocken Echo summt,
                    eröffnet sie den Maskentanz.

Ein kleines Blendespiegelein
                    klemmt sie verborgen in der Hand;
Mit diesem zielt sie unvermerkt
                    und dreht es heimlich nach dem Sand.
Kaum daß sie dieses Zeichen gibt,
                    erhebt sich ein betäubend Schnarrn
Und blitzend durch das Blendelicht
                    schrecken viel rotgescheckte Narrn,
Mit Knarren und mit Pritschen, schnell,
                    auf Rädern reitend - eins, zwei, drei! -
Quer durch den Bruch. - Dann plötzlich: Halt!
                    - Ein Schnarrn - und alles ist vorbei.

Und wieder dreht das Sonnenweib
                    den Spiegel spielend in der Hand.
Und sieh: vom hohen Schanzenberg
                    im feuersamtenen Gewand
Mit Pelzsandalen leis und lind
                    wispern gespenstisch ab und zu
Viel schöne Hexenfräulein. - - Husch!
                    - Ein Wink - und alles ist in Ruh.

Und also fort. - - - Da stieg vom Feld
                    ein Schnitter durch das Schanzentor
Und schaute den verhexten Ball
                    und lacht' aus voller Brust hervor.

Schnellend das rote Sonnenweib
                    stand plötzlich aufrecht in dem Thron,
Und zielend mit dem Blendeglas
                    nach dem verwegnen Menschensohn
Streckt' es die linke Hexenhand
                    mit Hörnerfingern gegen ihn.
- Da taumelt' er und stöhnt' - und sank
                    ohnmächtig auf die Erde hin.

Jetzt mit gewalt'gem Riesenschritt
                    durcheilte sie die heiße Bahn
Und kniet' ihm lastend auf die Brust
                    und sah ihn unheildrohend an:

"Wo du in diesem Schmerzensheim
                    blickst in ein lebend Angesicht,
Und wär' es des geringsten Wurms
                    und schief und krumm, so lache nicht!
Und wenn du an dem letzten Fleck
                    begegnest einem Sonnenschein,
So segn' ihn mit Gebet und Dank
                    und freu' dich ins Allherz hinein!
Narrheit ist alles rund umher
                    und überall ist Karneval.
Nach eines bösen Magiers Stab
                    walzt die Natur im Maskenball.
Es sieht von außen spaßig aus;
                    doch innen ist's ein traurig Stück:
Alle die buntgescheckten Narrn
                    sie tanzen um ein Schlückchen Glück."

Dann strich sie mit dem rechten Arm
                    bewegend über seine Stirn.

Und alsobald die Fieberglut
                    wich aus dem pochenden Gehirn.
Der Atem wogte gleich und stark,
                    den Geist umfing ein dichter Schlaf -
Als er mit neuerwachtem Blick
                    verwundert sich im Steinbruch traf,

Da war der ganze weite Bruch
                    in finstre Schatten eingetaucht
Und singend kam durchs stumme Korn
                    ein Abendglockenklang gehaucht.
Einzig am hohen Schanzenrain,
                    wo stets der Sand im Regen fiel,
Warnte der rote Sonnenrock
                    und das verhexte Blendespiel.


  Carl Spitteler . 1845 - 1924






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