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Carl Spitteler
Schmetterlinge
. 2. Auflage 1907
Kamille
Wenn des Phöbus Herde lagert auf dem Berg,
Feuer schnaubend und den Tau und Nebel weidend,
Schlüpft die keusche Sonnengöttin durch das Waldtor,
Hebt sich auf die Zehen, klatscht in ihre Hände:
Husch! mit leisen Flügelschlägen die Kamille
Zuckt herbei. Flugs durch den stillen Lärchwald
Jagen sie einander in beschwingtem Wettlauf.
Hell vor Freude strahlt der Blick der Himmelshirtin.
Kräft'gen Wellenstoßes aus den offnen Lippen,
Wenn sie lacht und jauchzt und triumphiert im Glücksspiel,
Haucht ihr Odem. Und im übermüt'gen Tanze
Schüttelt sie das Haupt und löst die schwarzen Locken,
Daß die Perlen, rieselnd über ihre Schultern,
Rollen in das Moos und in den blauen Efeu.
- Hei! wie flattert durch den Wald der schwarze Haarbusch!
Hei! wie scheucht sie vor sich her den flüggen Vogel!
Schlüpfend durch die Grotten oder keck vom Felsblock
In den Silberbach sich schwingend, daß der Sprudel
Spritzt um ihre Knie und duft'ge Irisbogen
Schürzen ihr den Leib mit buntem Schleierwogen.
Aber abends, wenn vom Almendfelde brüllend
Stehen auf die roten Rinder und allmählich
Steigt zum Gipfel langsam die gehörnte Herde,
Da ergibt sie sich; und hingestreckt im Efeu,
Herzt sie den beglückten Sieger; hebt und wiegt ihn
Mit dem Finger, schaukelt ihn auf ihren Lippen.
Sammelt emsig dann im Moos die lichten Perlen,
Eilt zum Brunnen, schmückt sich vor dem Silberspiegel.
Endlich, wandelnd vor den müden Rindern, treibt sie
Heimwärts; lockend mit melodischem Gesange.
Doch von fern das Sternenheer mit leisem Gange
Folgt dem Locken und dem Herdenglockenklange.
Carl
Spitteler . 1845 - 1924
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