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Carl Spitteler
Schmetterlinge
. 2. Auflage 1907
Lucille
Das
Leben eines Schmetterlings währt siebzig,
Wenn's hoch kommt, achtzig Tage.
Wohl eine kurze Frist!
Doch eine andre Summenzahl ergibt sich,
Wenn man ermißt,
Wie viel sein Leben Glück betrage.
Aufs weiche Moos im tiefen Waldesdüster
Setzt'
ich den Tritt.
Da deutete die magische Lucille
"Komm'
mit!"
Sie flog voran durch Felsen und durch Grotten,
Den
Weg zu zeigen.
Quellen und Brünnlein hört' ich leise rauschen,
Dann
schweigen.
Am Waldesspitz, am schatt'gen Buchensaum
Blinkte
sie schlau
Und winkte mit den Hörnchen um die Ecke:
"Schau!"
Und wie ich folgte der geheimen Weisung,
Was
sah ich dort?
Was nicht vermag zu malen und zu schreiben
Ein
Menschenwort.
Unter dem Riesenkuppeldachgewölbe
Ein
Säulengang
Führte durch dämmerfeierliches Dunkel
Dem
Weg entlang.
Rings Bogenfenster, Nischen und Altäre,
Mit
Laub bekränzt,
Umhaucht von warmem Weihrauch, und von Luftstaub
Blendend
umglänzt.
Am Dach, am Fries, an den polierten Pfeilern,
Am
Weggestein:
Fackeln und Feuertöpf' und Hängelampen
Mit
Flammenschein.
Und siehe, aus den Nischen, aus den Krypten
Durchs
Waldestor
Kamen viel himmelblaue Sonnenjungfraun
Leuchtend
hervor.
In gleichem Abstand zwischen den Pilastern
Am
Wegesrand
Stellten sie sich zu schimmernden Kolonnen
Im
Glanzgewand.
Dann warfen sie mit schnellen Armesschwüngen
Der
Gegenschar
Über den Weg die balsamduft'gen Schleier
Zum
Fangen dar.
Und mit gezückten Schleierschlägen reizend
Den
Schmetterling,
Riefen sie neckisch aus den blauen Augen:
"Spring!"
Und einesmals mit plötzlichem Entflammen
Schwang
er sich auf
Und unterschlüpft' und übersprang die Netze
Mit
jähem Lauf.
Er blitzte durch die dämmerdunklen Hallen,
Ein
funkelnder Saphir;
Dann unverseh'ns erscheinend auf dem Rückweg
Kam
er zu mir.
Vor Dank und Wollust lächelte sein Wesen
Selig
und gut.
Dann trieb ihn wieder fort zum mut'gen Spiele
Sein
edles Blut.
Doch als er siebenmal mit schnellem Schweben
Durchreist
die Feuerspur,
Jauchzt' er: "Man mißt nicht unser Glück und Leben
Nach
Menschenuhr.
Und wenn man fragte, welcher von uns Beiden,
Du
oder ich,
Sei zu bedauern oder zu beneiden -
Sprich!"
Carl
Spitteler . 1845 - 1924
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