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Gedichte, Lyrik, Poesie

Schmetterlinge
162 Bücher



Carl Spitteler
Schmetterlinge . 2. Auflage 1907



Mnemosyne

(Halbapollo)

Ach, das war ein schöner Morgen, wie ich keinen mehr erlebt!
Wie er mir in Traum und Wachen ewig vor die Seele schwebt!

Glänzend überm Hochgebirge war der Himmel ausgespannt,
Und der See, vom Ost geschaukelt, plätschert' um den Gartenstrand.
Und du kehrtest aus dem Bade, frisch und jung und schön und lieb,
Kamst zu mir ins stille Zimmer, wo ich dein gedenkend schrieb,
Lehntest dich auf meine Schulter, daß der mächt'ge Lockenstrom
Traf mein Antlitz und benetzt' es und umhaucht' es mit Arom.

Kam kein Laut auf unsre Lippen jenen heil'gen Augenblick;
Denn wir fühlten in der Wage schwanken dein und mein Geschick.

Und, wie oft ein leicht Ereignis wuchtend die Entscheidung trifft,
Flog ein Falter durch das Fenster, setzte sich auf meinen Stift,
Blank von Farbe, rein und edel, makellos und anmutsvoll,
Von Gestalt und Flug und Haltung ebenbürtig dem Apoll.

Fehlte nicht ein Hauch noch Stäubchen dem erlauchten, schönen Tier,
Fehlten bloß zwei goldne Ringe ihm zur höchsten Ehr und Zier.

Und ich sah ihn schwanken, schweben, leuchten durch den schatt'gen Saal
Und mit plötzlichem Gedanken blitzt' in mir ein Hoffnungsstrahl:

"Auf! zum Berg und zu dem Schächen, wo am First der Adler haust!
Wo die Rose blüht am Abgrund und zum See der Gießbach braust!
Dort, du edelweiße Jungfrau, mit dem Antlitz treu und wahr,
Mit dem Herzen keusch und spröde, mit den Augen groß und klar,
Dort ist deine stolze Heimat, dort im Gletschersonnenschein
Will ich eine Frage richten durch dein Aug' ins Herz hinein."

Und wir stiegen längs dem Gießbach auf zum Schächen überm See,
Sah'n den Adler ziehn am Himmel, sah'n die Rose glühn im Schnee.
Erd' und Himmel, Aug' und Seele funkelten von Glück und Gold
Und auf meine heil'ge Frage blicktest du so ernst und hold.

Was ein Menschenherz an Schönheit, Lieb und Mut ertragen mag,
Das gewährt' in Gnad und Hohheit jener benedeite Tag.

Fehlte nicht ein Hauch noch Stäubchen ihm zur höchsten Ehr und Zier,
Fehlen bloß zwei goldne Ringe, einer dir und einer mir.


  Carl Spitteler . 1845 - 1924






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