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Gedichte, Lyrik, Poesie

Schmetterlinge
162 Bücher



Carl Spitteler
Schmetterlinge . 2. Auflage 1907



Seidenspinner

Ich maß den Berg mit meinem Blick und sprach:
                        "Ich werd's erreichen!"
Dann faßt' ich einen heiligen Entschluß
                        niemals zu weichen.

Daß ich am Wege Leichen liegen seh',
                        soll mich nicht hindern.
Und weder Müh noch Not noch Mißerfolg
                        den Eifer mindern.
- Dornen und Spott und Haß verletzten mich
                        und rissen Wunden.
"Droben am Gipfel, in der Siegesluft
                        werd' ich gesunden."
- Dummheit in eklen Haufen, dick und zäh
                        sperrte die Pforten.
Da wusch ich mich und öffnete mir Bahn
                        an reinern Orten.

Ich stürzt' am Ziel, fragt nicht, wie das geschah,
                        in eine Falle.
Da waren eines einz'gen Mals zerschellt
                        meine Hoffnungen alle.
Das Herz betrübt, der Mut geknickt, gelähmt
                        des Geistes Schwingen,
Und keine Willensstärke reichte mehr
                        den Sieg zu zwingen.

- Da lag ich nun im Grab und konnte nicht
                        die Glieder rühren
Und ohne Schmerzen nicht mein eigen Selbst
                        denken und spüren.

Ob meinen Häupten sah ich schön und groß
                        das Leben blenden;
So weh' mir's tat, ich mochte nie davon
                        die Blicke wenden.

Es kroch zu mir ein Vögelein und sprach:
                        "Darf ich dich lieben?"
Da drückt' ich beide Augen zu und stöhnte:
                        "Nach Belieben."

Sie fühlt' und litt all meinen Kummer mit
                        tief im Gemüte,
Verzieh mir jedes, trug und duldet' es
                        mit Weibesgüte.
- "Wie kann ich einst, du gutes Vögelein,
                        dir dieses lohnen?"
Da schmeichelt' und begehrte sie:
                        "Allein um dich zu wohnen!"
Daß ich an ihr vorbei nach oben sah,
                        dient ihr zum Neide;
Und einen Namen nannt' ich oft im Traum
                        zu ihrem Leide.
Sie spann um mich ein feines Seidenhaus,
                        die Welt zu schließen
Und ohne fremde Augen mein Geseufz
                        auszugenießen.
Schon hatte sie mit Fleiß und viel Geduld
                        und Mut und Dauer
Das Haus versperrt, und blieb allein ein Spalt
                        im Dach der Mauer,

Da schaute sie auf meinem Angesicht
                        Verzweiflung stehen
Und sah mich heimlich nach dem lichten Spalt
                        den Hals verdrehen.
- Plötzlichen Eifers eilte sie geschwind
                        und kurz entschlossen
Und riß mit hast'ger Arbeit wieder ein,
                        was sie verschlossen.
Und als nun neuerdings das böse Licht
                        blendete offen,
Lächelte sie mit innigem Liebesblick:
                        "Hab' ich's getroffen?"

Da rief ich heftig: "Komm doch einmal her!
                        laß dir bekennen:
Ich will mich fortan deinen schlechten Knecht,
                        dich meinen Engel nennen!"


  Carl Spitteler . 1845 - 1924






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