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Adelbert von Chamisso
Gedichte . 1836



Die Sonne bringt es an den Tag

Gemächlich in der Werkstatt saß
Zum Frühtrunk Meister Nikolas,
Die junge Hausfrau schenkt' ihm ein,
Es war im heitern Sonnenschein. -
    Die Sonne bringt es an den Tag.

Die Sonne blinkt von der Schale Rand,
Malt zitternde Kringeln an die Wand,
Und wie den Schein er in's Auge faßt,
So spricht er für sich, indem er erblaßt:
    Du bringst es doch nicht an den Tag.

Wer nicht? was nicht? die Frau fragt gleich,
Was stierst du so an? was wirst du so bleich?
Und er darauf: sei still, nur still;
Ich's doch nicht sagen kann, noch will.
    Die Sonne bringt's nicht an den Tag.

Die Frau nur dringender forscht und fragt,
Mit Schmeicheln ihn und Hadern plagt,
Mit süßem und mit bitterm Wort,
Sie fragt und plagt ihn fort und fort:
    Was bringt die Sonne nicht an den Tag?

Nein, nimmermehr! - Du sagst es mir noch. -
Ich sag' es nicht. - Du sagst es mir doch. -
Da ward zuletzt er müd' und schwach,
Und gab der Ungestümen nach. -
    Die Sonne bringt es an den Tag.

Auf der Wanderschaft, 's sind zwanzig Jahr',
Da traf es mich einst gar sonderbar,
Ich hatt' nicht Geld, nicht Ranzen, noch Schuh',
War hungrig und durstig und zornig dazu. -
    Die Sonne bringt's nicht an den Tag.

Da kam mir just ein Jud' in die Queer',
Ringsher war's still und menschenleer:
Du hilfst mir, Hund, aus meiner Noth;
Den Beutel her, sonst schlag' ich dich todt!
    Die Sonne bringt's nicht an den Tag.

Und er: vergieße nicht mein Blut,
Acht Pfennige sind mein ganzes Gut!
Ich glaubt' ihm nicht, und fiel ihn an;
Er war ein alter, schwacher Mann -
    Die Sonne bringt's nicht an den Tag.

So rücklings lag er blutend da,
Sein brechendes Aug' in die Sonne sah;
Noch hob er zuckend die Hand empor,
Noch schrie er röchelnd mir in's Ohr:
    Die Sonne bringt es an den Tag.

Ich macht' ihn schnell noch vollends stumm,
Und kehrt' ihm die Taschen um und um:
Acht Pfenn'ge, das war das ganze Geld.
Ich scharrt' ihn ein auf selbigem Feld -
    Die Sonne bringt's nicht an den Tag.

Dann zog ich weit und weiter hinaus,
Kam hier in's Land, bin jetzt zu Haus. -
Du weißt nun meine Heimlichkeit,
So halte den Mund und sei gescheidt;
    Die Sonne bringt's nicht an den Tag.

Wann aber sie so flimmernd scheint,
Ich merk' es wohl, was sie da meint,
Wie sie sich müht und sich erboßt, -
Du, schau' nicht hin, und sei getrost:
    Sie bringt es doch nicht an den Tag.

So hatte die Sonn' eine Zunge nun,
Der Frauen Zungen ja nimmer ruh'n. -
Gevatterin, um Jesus Christ!
Laßt euch nicht merken, was ihr nun wißt. -
    Nun bringt's die Sonne an den Tag.

Die Raben ziehen krächzend zumal
Nach dem Hochgericht, zu halten ihr Mahl.
Wen flechten sie auf's Rad zur Stund'?
Was hat er gethan? wie ward es kund?
     Die Sonne bracht' es an den Tag.


  Adelbert von Chamisso . 1781 - 1838






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