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Karl Ernst Knodt
Neue
Gedichte . 1. Auflage 1902
Am Abend vor Gethsemaneh
Des Meisters letzter Weg. Die letzte Nacht im Thale
Der roten Rosen und der roten Wundenmale.
Wie sich der Rosen Duft der zarten Mandelblüte
So zaubrisch mischt - ein Bild der Schönheit und der Güte.
Der Meister achtet's nicht. In ganzer Andacht ranken
An einem anderen Holz empor die Gottgedanken.
Wienah das Kreuz, das grauende! Wienah die goldneKrone!
Schon ruft der Vater deutlich dem verklärten Sohne.
... Die Mutter auch verlangt's in dieser Geisterstunde
Nach einem Lösungswort aus dem geliebten Munde.
Durch's abendliche Thal schleicht sie mit müden Schritten,
Mit weichstem Mutterlaut den Sohn um eins zu bitten.
"Mein Kind, du rastest hier auf unbequemen Steinen,
Und doch - wie wartend winkt das stille Haus der Deinen.
Wie wohnt die Mutter nah!" - Er aber haucht: ,Wie ferne!
Hör! Meine Heimat baut sich bald auf anderm Sterne.
Mein Vater, meine Mutter, meine Brüder leben
Mir aller Orten. Alle will Ich zu mir heben,
O Mutter, denke nicht, du seist vom Sohn vergessen,
- Ein Reich muss ich erbauen, ewig, unermessen,
Wo Menschen aller Zungen, aller Nationen
Als Kinder eines Vaters ewig werden wohnen.
Dass sie das Ziel erreichen, dass sie heim sich finden -
Muss Ich durch Meinen Tod sie lösen von den Sünden.
Das ist mein Weg, mein nächster. Lege mir hienieden
Noch einmal deine Hand auf's Haupt! Nun geh in Frieden!'
Die Mutter schreitet in die Nacht, ein Schwert im Herzen.
Er aber geht gefasst den Weg der schwersten Schmerzen.
Zwei Tage später glühn auf Golgatha zusammen
Der Menschen- und der Gottes-Liebe reinste Flammen.
Karl
Ernst Knodt . 1856 - 1917
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