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Karl Ernst Knodt
Neue Gedichte . 1. Auflage 1902



Ein Mignonlied

Gebt tiefstem Heimweh einen Namen,
Dem Heimweh, wie's in tausend Herzen lebt,
- Und er heisst: Mignon!

... Lest Ihr ein Andres denn, als Himmelsheimweh,
Lest Tiefres Ihr, als jene tiefste
Ach! jeder Menschenbrust ureigne Sehnsucht
Aus jenen schönen Schildereien
Von Wilhelm Meisters Meistersang,
Und aus des Meisters Wilhelm Bild?

Fürwahr, mir ward dies hehre Gleichniss
Verkörprung eines Urgefühls,
Des eingebornen Heimgefühls!

Wie eine Offenbarung höherer Welt
Tritt hier uns eine Gottidee entgegen
In Menschengestalt.

Licht ist der Mignon Leibeshülle.
Das weisse Kleid, in dem wir willig
Sie scheinen lassen, bis sie wird,
Durchleuchtet ein verklärter Leib.
Im Auge strahlt ein solches Sehnen,
Dass es die Schauenden heimwärts zwingt,
- Noch mächtiger, als all die Klänge,
Die Mignon's geistdurchstrahlte Finger
Den goldnen Seiten süss entlocken,
Ja mächtiger, als die Sangeslippen,
Der einzigartigen Lieder voll,
Die nur ein Gott vermochte aufzuschliessen:
,Kennst du das Land? ..' Das ferne Land,
Dahin's die Seele zieht zum Vater? ..
Und, Wer die Sehnsucht kennt, weiss, was ich leide ..'
Gebt tiefstem Heimweh einen Namen,
- Er heisst: Mignon!


  Karl Ernst Knodt . 1856 - 1917






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