Bin ich's? Oder ist's ein Höhres?

Wenn ich morgens früh betret' mein Zimmer,
Sitzt die Muse schon auf meinem Stuhle.
Golden leuchtet ihr Gewand' und golden
Seh' ich an den Wänden Bilder prangen
Neuer Schönheit ... Und ich sprech' zur Muse:
"Laß mich bei Dir stehen und nur schauen!
Laß mich bei Dir sitzen und nur lauschen!
Denn Du bist die Seele meiner Seele,
Bist mein zweit' Gesicht, bist meines Lebens
Leben ... In Dir ward ich neugeboren,
Durch Dich hat ein neuer Geist sich über mich ergossen,
Mit Dir trink' ich an des Lebens Quellen.
Ward nicht alles anders, seit ich Dich empfinde?
Unerhörte Triebe fühl' ich aus mir dringen.
Oft erzittr' ich vor den eignen Schauern
Meines Schaffens, wenn die neuen Kräfte
Über mich wie Wasser strömen und zum Ufer
Einer andern Welt die Sehnsucht tragen..."

Das gesteh' ich meiner Muse und viel andres,
Was wie Lallen klingt, noch unerlöst in Liedern.
... Doch wenn ich mich niedersetze, ist entschwunden
Jedesmal die Muse. Und ich führ' die Feder
So wie ich sie jetzt zu diesem Sange führe,
- Und ich weiß nicht: Bin ich's? Oder ist's ein Andres,
Höhres, was hier zu Dir, stiller Leser, redet? -
Deute Du's! Du weißt's ja, was "vom Menschen",
Und was uns gegeben wird "von oben"!


  Karl Ernst Knodt . 1856 - 1917

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