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Hermann von Lingg
Schlußsteine
. 1. Auflage 1878
Der Greis auf dem Berge
Seit Jahren bin ich aus dem Thal
Nicht mehr heraufgekommen,
Vielleicht ist's heut das letztemal,
Daß ich den Berg erklommen,
Den alten Berg; denn er und ich
Wir beide sind die Alten,
Wir sahen Welt und Zeiten sich
Und Alles umgestalten.
Ich red' mit ihm von alter Zeit
Von längst vergangnen Tagen,
Von Bäumen hoch und ästig breit,
Die alle nicht mehr ragen,
Von Dingen, wie sie einst geschehn,
Wovon man einst gesprochen,
Von Mauern, die wir einst gesehn,
Und die man abgebrochen.
Der Berg in seinem Felsenbau
Steht fest und ungebrochen,
Er steht so fest, so hart und rauh
Wie ich auf meinen Knochen.
Er sieht auf seine Blumen hin
Wie ich auf all' die Meinen,
Die Enkel, deren Haupt ich bin,
Und die mich einst beweinen.
Auf meinem Berge, hier allein
Möcht' ich die Augen schließen,
Mir ist, ich würd' mich ins Gestein
Verwandeln und verschließen,
Dann wär das Sterben nichts, als nur
Ein sanftes Uebergehen
Vom Sein zum Nichtsein - an der Uhr
Ein leises Stillestehen.
Ihr grauen Felsen rund umher
Gewiß, auch ihr habt Seelen,
Nicht mag's an Geistersprachverkehr
In stiller Nacht euch fehlen! -
Zur Tiefe rollt ein Stein vom Joch,
Ihm dünkt es weite Ferne,
Und dort am Himmel leuchten noch
Schon längst erlosch'ne Sterne.
Hermann
von Lingg . 1820 - 1905
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