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Schlußsteine
162 Bücher



Hermann von Lingg
Schlußsteine . 1. Auflage 1878



Der Magier

In des Magiers Bücherkammer
Tritt ein holdes Mädchen ein,
Prächtig winkt ihr Spang' und Klammer
An den Bänden tief im Schrein.
Und des alten Nekromanten
    Größten Folianten
Schlägt sie auf und liest darin.
Wie der Worte dunkler Sinn
Ihre Seele wirr umkreist! -
Plötzlich steht vor ihr ein Geist.

Achtlos hatte sie gelesen
Bis zum Wort, deß' Zauberkraft
Allem, auch was längst gewesen,
Wieder neues Leben schafft.
Und so las sie denn das Zeichen,
    Das den Schattenreichen,
Das der Geisterwelt befiehlt.
Als sie schaudernd inne hielt
War dem Grund der Tiefe schon
Einer jener Schaar entflohn.

Schlank und hoch mit Speer und Horne,
Schöner als sie je was sah,
Schön wie ein Achill im Zorne
Stund der Dämon vor ihr da.
Schrecken und zugleich Entzücken
    Fesseln und berücken
Ihrer bangen Sinne Gluth,
Doch sie faßt sich endlich Muth,
Und beginnt nach ihm gewandt:
"Sprich, wer hat dich hergesandt?"

Feuer schießen seine Blicke,
"Du, du selbst!" erdröhnt sein Wort.
"Ich?" versetzt sie, "nun ich schicke
Dich sobald nicht wieder fort!"
"Wehe dir, du thöricht Blinde,"
    Spricht der Geist zum Kinde,
"Kein Gebot der Liebe rief
Mich hervor aus Grabesruhn,
Haß und Fluch nur höllentief;
Aber dir gehorch' ich nun.

Sprich, was soll ich dir verschaffen,
Willst du Gold, ich hol' es her,
Schlösser, Diener, Pferde, Waffen;
Nichts ist deinem Knecht zu schwer.
Willst du Zauberkünste lernen,
    Lesen in den Sternen?
Willst du ferne Länder schau'n?
Meer, Gebirge, Wälder, Au'n,
Schifffahrt, Jagd, ein Königreich,
Alles diene dir sogleich."

"Dich," ruft jetzt die Maid, "erlösen
Dich, möcht ich durch Himmelshuld,
Dich erretten von dem Bösen;
Denn ich bin noch ohne Schuld!" -
Doch mit drohendem Bewegen
    Tritt es ihr entgegen,
Eine wilde Schreckgestalt.
"Folge! bei des Fluchs Gewalt!"
Herrscht es donnernd auf sie zu,
"Dem ich diene, dien' auch du!"

"Ach!" so ruft sie jetzt erbebend,
"Sprich, was ist es nach dem Grab,
Sagt die Seele, jenseits lebend,
Aller Liebe dort sich ab?"
Aber schon sie anzufallen,
    Reckt es Satanskrallen;
"Nun denn, weil du das verlangst,"
Ruft sie voller Seelenangst -
Vor Entsetzen todesbleich:
"Eine Blume hol' sogleich!"

Kaum daß sie dies Wort gefunden,
Da geschah ein Donnerschlag,
Und der Dämon war verschwunden,
Durch die Fenster brach der Tag.
Hingesunken auf die Decken,
    Halb entseelt vor Schrecken,
Lag die Maid, und leuchtend schien,
Leuchtend in des Thaus Rubin,
Eine Lilie rein und hold
Ueber ihr im Morgengold.


  Hermann von Lingg . 1820 - 1905






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