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Gedichte, Lyrik, Poesie

Schlußsteine
162 Bücher



Hermann von Lingg
Schlußsteine . 1. Auflage 1878



Fern von der Stadt, in einem Garten drauß,
Der still und dämmernd liegt und alterthümlich,
Bewohnt die schönste Maid ein einsam Haus.
Zum Ball, zur Oper fährt sie niemals aus,
Das dünkt ihr nicht ergötzlich oder rühmlich.

Von alten Bildern aber staubt sie dort
Die Spinngewebe, pflegt in goldnen Töpfen
Groteske Blumen, hört ihr flüsternd Wort
Und sinnt Erhab'nes nur, und träumt so fort
In Tiefen, die Gedanken kaum erschöpfen.

Sie wandelt durch den Garten zart und schlank,
Beschäftigt mit den Werken ihrer Dichter,
Und durchs Gemach zum eich'nen Bücherschrank;
Sonst allem andern Umgang sagt sie Dank,
Und flieht vor Allem höfliche Gesichter.

Was kümmern Feste, was die Bühne sie?
Doch wenn von Mozart, wenn von ihren Meistern,
Wenn von Beethoven eine Symphonie
Den Saal durchwogt, da freilich fehlt sie nie -
Dann kommt sie hergeleitet wie von Geistern.

Gesenkt die langen Wimpern lauscht sie nun:
Vorüber rollt der Zeitstrom seine Wogen,
Wo Schaaren Seliger am Ufer ruhn,
Und reizend kommt der Menschen flüchtig Thun,
Und Glück wie Weh bekränzt vorbeigezogen.

Dort bauen sie, dort auf dem Meerstrandkies
Versucht ins Muschelhorn ein Kind zu blasen,
Sind's Argonauten mit dem goldnen Vließ,
In deren Segel dort der Zephyr blies,
Wo Heerden über steiler Klippe grasen?

Sie weiß es, denn nur sie allein
Versteht, was diese Töne sind und sagen,
Wo wild sie jauchzen oder sanft schalmein.
Sie drückt die Stirn in ihre Händchen ein
Und ihre Lippen wollen etwas fragen.

So sah ich sie, so saß sie vor mir da
Und als ich sie zuletzt den Blick erheben
Und in die geisterhaften Augen sah,
Da war's, als fühl ich mir auf einmal nah
Den Genius der Musik vorüberschweben.


  Hermann von Lingg . 1820 - 1905






Gedicht: Fern von der Stadt, in einem Garten drauß

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Fern von der Stadt, in einem Garten drauß, Hermann von Lingg