Horch! Mitternacht - die Stunde,
Mit ihrem Mund vom Erz
Bewegt im tiefsten Grunde
Mit bangen Träumen mein Herz.

Denk' dir - mit jedem Schlage
Sänk' auch ein Jahr hinab,
Ein Jahr und soviel Tage
Als ich dir Küsse gab.

Mit jedem Schlag verbliche
Auch uns ein Morgenroth,
Und näher käm' und schliche
An uns heran der Tod.

Mit jedem Schlag versprühte
Von unserm Jugendtraum,
Ein Lieben - eine Blüthe
Von unserm Lebensbaum.

Und wir, in trautem Umfangen
Wir wüßten von Allem nichts,
Verloren sind wir, gefangen
Fern ab vom Grauen des Lichts.

Wir würden jenen Leichen,
Die man begraben fand
Im Schutt Pompejis, gleichen,
Sie ruhten Hand in Hand.

Sie schienen noch zu leben,
Noch schien um ihren Mund
Das Lächeln der Lust zu schweben
Vom innigen Seelenbund.

Doch wie sie nur von oben
Berührte das Wehen der Luft,
War ihre Gestalt zerstoben
Wie Staub im Staub der Gruft.

Nein fürchte nichts! Sei nicht bange,
Wir sind noch nicht erwacht,
Es währt noch immer, noch lange
Die liebeschützende Nacht.


  Hermann von Lingg . 1820 - 1905

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