Judas

"Göttlich bist du, göttlich schön im Tod,"
Sprach Judas Ischarioth,
Als er über Golgatha
Seinen Herrn am Kreuze sah.

"Mich," so rief er aus, "mich geißelt wund
Ach ein Zug um diesen Mund,
Den ich lächelnd einst geschaut,
Als sie sprach mit ihm vertraut.

Als sie lag vor ihm auf ihren Knien,
Ganz ihm hingegeben schien,
Und ihn salbte, ja sogar
Trocknete mit ihrem Haar.

O wie war dies Lächeln mir verhaßt!
Neid und Wuth hielt mich erfaßt,
Wie sie mit so holdem Trug
Ihre Augen niederschlug.

Plötzlich traf es mich, der Heiland liebt,
Liebt wie wir, und er vergibt
Schönen Sünderinnen, ha!
Da verrieth ich dich, ja da!

Jetzt im Tod, wie göttlich mild
Bist du wieder, Leidensbild!
Kannst du, Todter, mir verzeihn?
Stummes Antlitz! Nein, nein, nein!"

Judas ruft es - mit dem letzten Wort
Stürzt er rasend nach dem Abgrund fort,
Und wie jäh ein Blitz verloht
Stürzt er sich in Nacht und Tod.


  Hermann von Lingg . 1820 - 1905

Expressionisten
Dichter abc