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Hermann von Lingg
Schlußsteine
. 1. Auflage 1878
Lilith
Es ist sie, sprach, verhüllt von Schatten,
Der Engel, als er Eden nah,
Im Garten wandelnd mit dem Gatten
Das Weib des ersten Menschen sah;
Es ist sie, sie ach einst vor Allen
An Schönheit leuchtend, meiner Macht
Gefährtin, nun auch sie gefallen,
Gestürzt in blinde Körpernacht.
An dies Geschöpf aus Lehm gebunden,
Dem sie gehorcht, gehorchen muß,
Wie furchtbar bin ich überwunden!
Ja das war, Ew'ger, dein Beschluß!
Doch hold, wie hold ist sie geblieben!
Wie rührend ist ihr Gang! Noch heut ...
Ich würde sie noch heute lieben,
Wär's nicht der Stolz, der's mir verbeut.
Der Stolz, der mich mein Elend tragen,
Und einsam auszudauern heißt.
Verstünde sie noch meine Klagen?
Vernähm' sie den verwandten Geist?
Doch halt, was hab ich da gesehen?
Sie kost die Pflanze, kost dem Thier,
Die Schlange scheint sie zu verstehen ...
Wohlan, als Schlange nah ich ihr.
Ist sie noch völlig nicht versunken
Und zum Gehorchen hingerafft,
Dann weck ich auf in ihr den Funken
Der angebornen Götterkraft!
Ich überrede sie zu pflücken
Vom Baum, verwehrt durch sein Gebot,
Dann, Himmel, neide mein Entzücken,
Dann wird sie mein, mein durch den Tod.
Hermann
von Lingg . 1820 - 1905
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