Norne

Weiß es wer, Geheimnißvolle,
Was du Tiefes schaffst und webst?
Was du gräbst in erzne Rolle,
Und nach welchem Ziel du strebst?
Alles Große wird auf Erden
Nur durch deinen Sieg vollbracht,
Doch du zagst, gesehn zu werden,
Und verhüllest dich in Nacht.

Vor dem Mächt'gen sinkst du nieder,
Der dich zu vernichten meint,
Während um so größer wieder
Dein erdrücktes Recht erscheint.
In die Schwerter todestrunken
Wirfst du dich, und sinkst hinab,
Wie für alle Zeit versunken
In Vergessenheit und Grab.

Wirfst du nicht, Verschwenderische,
Millionen Leben hin,
Um in ewig neuer Frische
Ueber sie hinweg zu ziehn?
Taumelnde Triumphe feiern
Die Verwüster, aber du
Wandelst in noch dunklern Schleiern
Ungebornen Tagen zu.

Selbst die Schönheit, selbst Gebilde
Von vollendeter Natur,
Schufst du für die erz'nen Schilde,
Für den Tritt der Horde nur,
Wo Verwünschung folgt dem Würger,
Schleicht dein Knecht, der Tod vorbei,
Löst das Bündniß edler Bürger
Reißt der Völker Band entzwei.

Aber fern davon indessen
Hast du schon gelegt die Saat,
Daß nach Jahren unermessen
Aufersteh' die neue That.
Um das Ach der dort Erdrückten,
Um den Blut- und Thränenraub,
Warfest du die goldgeschmückten
Götterbilder selbst in Staub.

Doch sie blieben! O sie rufen
Um so tief're Sehnsucht wach;
Auf den stets erhöhtern Stufen
Wird die Qual ein sanft'res Ach.
Marmor wird zur Seelentiefe,
Fries und Sims beredter Mund,
Und es gibt die Hieroglyphe
Ihrer Mumien Lächeln kund.

Was des Denkers Müh ersonnen,
Der Erkenntniß letztes Reis,
Was der Weisheit Hand gesponnen,
Gibst du Henkers Fäusten preis,
Daß wie weggefegt erschiene,
Was die Menschheit hart errang?
Nein! Daß ganz es sie verdiene,
Nie ermatt' ihr höchster Drang!

Nicht zu nennen, nicht zu schauen,
Aber über Tod und Fall
Schwebst du wie ein Morgengrauen,
Immerwährend, überall!
Wie am Wüstensaum die Pflanze
Nur vom Thau der Sterne lebt,
Ist es dir das Weltenganze,
Was auch deine Schwingen hebt.


  Hermann von Lingg . 1820 - 1905

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