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Rudolf Presber
Aus
Traum und Tanz . 1. Auflage 1908
Diagnose
Ich bin kein Arzt. Mir sitzt nicht lose
Das schmale Messer im Besteck;
Doch in der Augendiagnose
Erkenn' ich leicht den tiefern Zweck.
Des Auges Klarheit oder Trübung,
Ein flüchtig Blinken dann und wann,
Zeigt jedem Mann von ein'ger Übung
Den Zustand des Patienten an.
Früh war ich dieser Kunst Verehrer
Und auch - in diesem Fall - nicht dumm.
Es bot sich mir mein Klassenlehrer
In Quinta schon zum Studium.
Sah ich sein Auge tückisch blitzen,
So war mir fix das eine klar,
Daß nach der Schule nachzusitzen
Heut wieder mal mein Schicksal war.
Und wenn ich wo in Ruhepose
Ein Aug' vom Lid geschlossen traf,
So stellt' ich gleich die Diagnose
Auf "Müdigkeit" und "sanften Schlaf".
Bewährt ward solche Kunst aufs neue,
Wenn emsig forschender Verstand
In junger Augen Spiegelbläue
Ganz klein mein eigen Bildchen fand.
Wenn gar, wie Tau am Kelch der Rose,
Ein Tränchen an der Wimper hing,
Stellt' ich die richt'ge Diagnose
Bestimmt, eh' ich von hinnen ging.
Ich küßte sanft die lieben, feuchten
Äuglein in ihrer holden Scham
Und sah sie still und selig leuchten
Wenn ich des Weges wiederkam.
Rudolf
Presber . 1868 - 1935
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