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Rudolf Presber
Aus
Traum und Tanz . 1. Auflage 1908
Mütter haben immer recht
Deine Mutter warnte: "Kind,
Spürst du wohl des Lenzes Schmeicheln?
Glaub, es wird der Frühlingswind
Auch dein töricht Herzchen streicheln,
Wird's berühren sanft und weich
Mit dem Zepter seiner Blüten;
Ach, es wird - der Knospe gleich -
Lang' nicht seine Schätze hüten.
Kind, wir sind ein schwach Geschlecht,
Lockt der Lenz mit seinen Gaben - -"
Mütter haben immer recht;
Soll die deine unrecht haben?
Mutter meinte: "Wie du fühlst,
Wirst du, Kindchen, selbst nicht wissen;
Und dein heißes Köpfchen wühlst
Abends du in kühle Kissen.
Glaubst des Sprossers süßem Lied
Tief im Schlafe noch zu lauschen,
Und durch deine Träume zieht
Noch ein heimlich Quellenrauschen.
Und ein blühendes Geflecht
Will dein Lager licht umweben - -"
Mütter haben immer recht;
Willst du deiner unrecht geben?
Mutter spricht: "Und dann - - und dann - -
Wenn der Mai die Glöckchen läutet,
Tief im Grünen steht ein Mann,
Der nach dir die Arme breitet.
Und du fliegst ihm an die Brust,
Birgst dein Köpfchen, scheu beklommen,
Und du hast doch kaum gewußt,
Welchen Weges er gekommen.
Horch, im Walde hackt der Specht,
Und die wilden Tauben girren - -"
Mütter haben immer recht;
Und die deine soll sich irren?
Mutter wußt', daß du mich liebst,
Eh' du mir's gestandst mit Beben;
Und was du mir heute gibst,
Wußt' sie längst, du wirst es geben;
Wußt' es schon im rauhen März,
Daß, geschnellt von sicherm Bogen,
Meine Lieder dir ins Herz
Als des Frühlings Pfeile flogen;
Daß der Blume zart Geschlecht
Seinen Kelch erschließt im Maien - -
Mütter haben immer recht,
Wenn sie Frühling prophezeien!
Rudolf
Presber . 1868 - 1935
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