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Rudolf Presber
Aus
zwei Seelen . 1. Auflage 1914
Vision
Wer kennt den Zauber, der aus Tiefen
Der Seele zarte Bilder lockt,
Die, Reste toter Tage, schliefen,
Vom Winter sorglich überflockt?
Wer kennt den Zauber, der die Neige
Des Lebensmahls uns reich versüßt,
Wenn, wie von einer fernen Geige,
Die Melodie der Jugend fließt? ...
Ich stand am See bei einem Alten.
Eiszapfen klirrten ihm im Bart.
Am Ufer muntere Spieler ballten
Den frischen Schnee nach Bubenart.
Die Sonne schied. In roten Streifen
Der Wölkchen ging die Welt zur Ruh.
Und junge Paare zogen Schleifen
Auf blitzend blankem Eisenschuh.
Des Alten stilles Auge starrte
Hinunter auf die glatte Bahn,
Als ob ein seltener Spuk ihn narrte,
Der seinem Blick sich aufgetan.
"Was ist Euch, Freund?" Da fuhr er sachte
Durch feuchte Wimpern mit der Hand;
Und seltsam fremd war's, wie er lachte
Und mühsam diese Worte fand:
"Mich deucht, ich ward auf muntern Wellen
Ein schlankes helles Boot gewahr,
Drin saß mit fröhlichen Gesellen
Ich selbst; und blond noch war mein Haar.
Vor uns ein Tisch mit Apfelsinen,
Mit Chiantiflaschen, strohumspannt,
Im Schoß bekränzte Mandolinen -
Das Ufer blühte und das Land!
Viel goldene Sterne sah ich glimmen,
Und seltsam meinem Ohr geschah;
Ich hört' verliebter Mädchenstimmen
Gesang: "Sul mare lucida ..."
Und alle, die in diesem Boot sind,
Das lautlos durch die Fluten kroch,
Ich wußt's - wie lange! - daß sie tot sind,
Und fühlte froh, sie leben noch!
Da rieft Ihr mich. Verstummt die Lieder,
Und kahl, entblättert das Revier;
Und deutscher Winter war es wieder,
Und Schnee um mich - und Frost in mir!"
Rudolf
Presber . 1868 - 1935
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