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Rudolf Presber
Dreiklang
. 1. Auflage 1904
Beim Lesen
Ein Drama nahm ich jüngst zur Hand,
Und Welten fand ich ausgebreitet
Und spürt' in mystisches Gewand
Das Leid der Menschheit eingekleidet.
Ich sah die Liebe suchend irr'n,
Ich hört' die Sehnsucht ängstlich fragen
Und in ein zuckend Menschenhirn
Den Zweifel seine Krallen schlagen.
Fürs Weh des Tages taub und blind,
So las ich bei verschlossnen Türen
Und ließ ins Blütenlabyrinth
Der Leidenschaft mich zitternd führen.
Und wie ich hellen Ohres hör'
Schicksalzerfleischter Fluch und Jammern,
Da stand - nur für den Regisseur -
Das kalte Wort in kleinen Klammern:
"Vorhang".
In einem Drama las ich jüngst
Und sprach zu mir: Wenn du in Wochen,
In Mond und Jahr die Erde düngst
Mit deinem Fleisch und deinen Knochen,
Dann wird von deinem Lebensspiel,
Von deiner Kräfte freud'gem Treiben,
Weil allzufrüh der Vorhang fiel,
Vielleicht nur trübe Kunde bleiben.
Und was dir dorten droht und winkt
Als Sühn' und Lohn für Haß und Lieben,
Wenn dich der Tod erst abgeschminkt,
Weiß keiner, der zurückgeblieben.
Doch mag der Lenz mit Schmeichellist
Dein Herz alljährlich neu betören,
Je näher du dem Rätsel bist,
Du wirst es ohne Schrecken hören:
"Vorhang".
Rudolf
Presber . 1868 - 1935
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