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Rudolf Presber
Und
all' die Kränze ... . 1. Auflage 1911
Der neurasthenische Säugling
Ich bin ein Säugling und weiter noch nichts
(Es ist schon ein Kreuz mit uns Kindeln!)
Und liege mißvergnügten Gesichts
In selten trockenen Windeln.
Ich bilde im stillen mein Temperament
Und trage des Wickelns Beschwerden -
Zu gar nichts Rechtem hab' ich Talent,
Aus mir kann alles noch werden.
Es ahnt kein Prophet, ob ich, gut oder bös,
Mit Ruhm die Welt mal erfülle -
Nur eins bin ich heut schon: ich bin "nervös",
Und eines kann ich, ich brülle!
Die Minna betreut mich im Ammenschurz
Und singt mir neckische Lieder;
Ich suckle an meiner Veilchenwurz
Und schiele nach ihrem Mieder.
Nur "Sorhlet" krieg' ich im Gummischlauch -
Die Welt ist verkorkst und verludert!
Ich liege empört auf meinem Bauch
Und werde rückwärts gepudert.
Die Mutter malt meine Zukunft pompös,
Ich weiß nicht, ob ich sie erfülle -
Nur eins weiß ich heut schon: ich bin "nervös",
Und eines kann ich, ich brülle!
Und wie meine Nase, die Gott mir verlieh,
Wie die meiner Mutter hellenisch,
So bin ich halt auch "nervös", wie sie,
Und, wie der Papa, "neurasthenisch".
Ich reagiere auf jeglichen Lärm
Mit Tönen, mit wenig holden;
Und mein erstaunlich sensibles Gedärm,
Das exzelliert in Revolten.
Wenn ich mit den Fäusten, noch kaum muskulös,
Die Spitzen am Hemdchen zerknülle,
Beweis' ich's der Mitwelt: ich bin schon "nervös",
Und eines kann ich, ich brülle!
Sie nennen mich blutarm, was mach' ich mir draus!
Die Blässe ist aristokratisch.
Und wär' ich aus keinem so vornehmen Haus,
Ich wäre nicht neuropathisch.
Ich tränke heut bloß Muttermilch
Und läg' zwischen schmucklosen Wänden,
Ich ging' durchs Leben in Loden und Zwilch
Und schuftete mit den Händen.
Das wäre scheußlich und skandalös,
Solch Vegetieren im Mülle -
Da bin ich lieber schon heute "nervös"
Und reagiere - und brülle!
Rudolf
Presber . 1868 - 1935
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