162 Bücher
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Rudolf Presber
Und
all' die Kränze ... . 1. Auflage 1911
Ein Buch
Ein zierlich Buch mit rosa Blättern
Hat meine Mutter bewahrt im Spind,
Auf dem ledernen Einband in goldenen Lettern
Steht bloß: "Mein Kind".
Und in dem Buch von meinen Tagen
Die liebe alte verklungene Mär,
Da ich noch goldne Löckchen getragen,
Wie Seide so weich, wie Flachs so schwer.
Und aus den Worten, halb verblichen,
Lacht erste Freude, die ich gelebt;
Und hier - in unbeholfenen Strichen -
Mein erstes Bildchen eingeklebt.
Daneben ein frisches Kindergesichtchen
Zwischen dem Holzpferd und einer Kuh;
Ein erster Scherz, ein erstes Gedichtchen
Auf einen entflogenen Kakadu.
Die Kinderworte, die kecken Streiche
Gesammelt, geschrieben von liebendem Fleiß;
Und wie ich an der ersten Leiche
Geschaudert: "Mutter, ist das jetzt Eis?"
Und wie viel Neugier und wie viel Fragen,
Auf die es keine Antwort gab.
Und wie viel Liebe, die mich getragen,
Verweht im Winde, verschlossen im Grab ...
Ich blättere weiter. "Er ißt mit den Großen" -
"Der Rudi kriegt sein eignes Besteck" -
"Die ersten Prügel" - "die ersten Hosen" -
"Die erste Liebe" ... Ein kleiner Schreck
Ließ hier die Hand der Schreiberin zittern.
Man spürt's, daß sie's ein wenig gequält,
Wie sie dem Buch von den kleinen Rittern
Im Dienste von Nachbars Klärchen erzählt;
Wie sie den ersten Pfeil gefunden,
Der sich in ein junges Herzchen grub.
Und unten steht an der Seite, ganz unten:
"Mein armer Bub!"
Aus deinem, Mutter, floß mein Leben,
Ich war noch so dumm, du warst schon so klug.
Ein großes Lieben, ein großes Vergeben
Webt rührend durch das kleine Buch.
Ein heimliches Ahnen von Not und Beschwerden,
Das früh die sorgende Seele erschreckt,
Von kleinen Wunden, die bluten werden,
Wenn sie auch Stolz und Scham versteckt.
Du hast die Knospen im Triebe begriffen,
Noch eh' sich der Blüten Farbe gezeigt;
Du hast dem Mann den Spiegel geschliffen,
In dem seine Kindheit dem Nebel entsteigt.
Du lässest rückwärts die Wellen fließen,
Auf denen der Kahn des Lebens fährt;
Du hast dem Träumer ein Selbstgenießen
In seinen heiligsten Stunden beschert.
Ein zierlich Buch mit rosa Blättern
Trägt deine liebe Schrift im Spind -
Auf dem ledernen Einband in goldenen Lettern
Steht bloß: "Mein Kind".
Rudolf
Presber . 1868 - 1935
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