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Rudolf Presber
Media
in vita . 1. Auflage 1902
Es ist der alte Mai nicht mehr ...
Der Mai mit duftendem Blütensegen
Nun hat er die lachenden Lande geziert,
Als ob der kleinste von allen Wegen
Dem sonnigen Glück in die Arme mich führt'!
Doch alle die Blüten an den Hecken,
Die einst ich so selig heimlich umschlich,
Sie wollen mich locken nicht mehr und necken,
Sie nicken mir ernst und feierlich.
Die kleinen Wasser, die sich quälen
Durch kiesigen Boden zum trotzigen Wehr,
Sie wollen von Märchen mir nichts mehr erzählen -
Es ist der alte Mai nicht mehr!
Ich sitze beim Glas und spüre den holden
Waldmeistergeruch durch die Seele mir ziehn;
Die Bienen umkreisen die Blütendolden,
Und Amseln huschen durchs Rasengrün.
Doch wo ich, anstatt meine Syntax zu lernen,
Mit "ihr" einst Räuber und Nonne gespielt,
Da hat mit greulichen Mietskasernen
Die Spekulation in den Himmel gezielt.
Auch er ist gefallen, der alte Holunder,
Es hat mich keiner geliebt, wie er.
Wir lachten, wir schwatzten ... wir küßten darunter -
Es ist der alte Mai nicht mehr!
Und doch - Mit flinken, mit nackten Füßen
Läuft dort ein Mädel kreuz und quer
Durchs frische Grün aufatmender Wiesen
Hinter Zitronenfaltern her.
Die klügere Schwester in grüner Lauben
Schau' ich sie glühend beim Liebsten stehn.
Sie küssen sich lachend im guten Glauben:
Schön ist's, und keiner hat es gesehn ...
Die Sonne in goldenen Wolkenhüllen
Sinkt auf der Berge blaues Joch - -
Da trink' ich den Wein aus und denk' mir im stillen:
Bin ich denn selbst der alte noch?
Rudolf
Presber . 1868 - 1935
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