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Befreiung
162 Bücher



Anna Ritter
Befreiung . 1. Auflage 1900


Sturmhymnus

Was wissen sie von dir, mein König du,
Die nie des Thales Nebeldunst entstiegen,
Um ihre Stirn in Höhenluft zu wiegen
Und frei zu werden in der Bergesruh! -
Die nie des Hauses Sicherheit verlassen
Und dich gesucht, fern dem Gewühl der Gassen,
Wo überm Felsengrat dein Auge blaut!
Denn auf den Gipfeln ist dein Reich errichtet,
Und in den Wolken steht dein Thron gebaut!
Dein Blick der Blitz, der Donner deine Stimme,
Dein Athem Freiheit, und dein Mantel Nacht,
So fährst du hin auf der Jahrtausend Rücken
Und tödtest den, der deiner Herrschaft lacht!
Es sinken Schiffe, wenn dein wildes Tosen
Die Wellen aufpeitscht und durchs Segel braust,
Es starben Städte, die dein Fuß zerstoßen,
Und Wälder dorrten, die dein Grimm zerzaust!
Geschlechter sahst du blühen und vergehen
Und fingst die Seufzer ihrer Sehnsucht auf,
Der Gottheit heilgen Athem hörst du wehen,
Der Groll der Tiefe dringt zu dir herauf..
Erschütternd tönt dein Lied, wenn du die Saiten
Mit den gewaltgen Greisenhänden schlägst,
Mit dem uralten Wehgesang der Zeiten
Der lüfte ruhevolles Meer erregst!
O Sturm - wie klein erscheint in solchem Chore
Des Einzelnen erbarmungswürdig Loos!
Was unerträglich schien und riesengroß -
Wie sinkt es kläglich in ein Nichts zusammen,
Wenn von des Berges leuchtender Empore
Die Klage einer Welt zur Höhe steigt.
Wenn aus der Asche modernder Gebeine
Es wieder aufloht in lebendgen Flammen,
Wenn ungestillte Sehnsucht, neubelebt,
Anklagend ihre Hand gen Himmel hebt!
Wenn aus dem Schutt zertrümmerter Altäre,
Vom fluchbeladnen, rauchgeschwärzten Steine
Die Stimme derer, die ein blinder Wahn
Dahin geopfert, wieder aufersteht,
Und auf dem blutgetränkten Feld der Ehre -
Den Leib bedeckt mit ungezählten Narben -
In langem Zuge sich die Krieger nahn,
Die nutzlos kämpften, litten und verdarben!
Wenn alle die aus ihren Gräbern steigen,
Die auf dem Thron der Menschheit einst gesessen,
Und die das kommende Geschlecht vergessen!
Wenn Christus selber durch die Reihen geht,
Um seiner Wunden blutend Mal zu zeigen...
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Sturm, der du König warst von Anbeginn -
Sieh, meine Kniee beug ich deiner Größe,
Daß mich das Leid der Menschheit von mir selbst
Und meines eignen Schicksals Last erlöse!
In deines Liedes thränenvollen Reigen
Nimm auch die Klagen meiner Seele hin
Und lehr mich - schweigen!


  Anna Ritter . 1865 - 1921






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