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Heinrich Seidel
Blätter
im Wind . (vermutlich) 2. Auflage 1882
Die Schwalbe
Liebliche Schwalbe!
Gern, wenn am offenen Fenster
Ich lausche friedlichen Tönen des Abends,
Gern erblick' ich dich,
Wie du mit leichtem Flügel
Vorüber dich schwingst.
Gern auch schau ich nach dir,
Wenn auf benachbartem Dach
Im röthlichen Strahl der Sonne
Du zwitscherst dein krauses Lied,
Oder am kugligen Nest,
Wo dir sorglich die Gattin weilt
Hineinschauend hangest.
Andere singen wohl schöner als du,
Andere prunken mit buntem Gefieder;
Schön ist der Schwan, gewaltig der Adler!
Doch du bist mir werth,
Du liebliche Schwalbe,
Du Vogel der Heimath! -
Allzeit kehrest du wieder
Von südlichem Lande,
Dir dein zutraulich Nest
Zu bauen im Norden -
Nimmer vergißt du der Heimkehr.
Sinnend gedenk' ich der Zeit,
Da selber ich weilte
Ferne der Heimath.
Ein Abend war es wie heut -
Friedlich und sonnbeglänzt -
Da sangst du mir in's Ohr
Den alten Heimwehklang,
Das süße herzbewegende Lied,
Daß mich verlangte mit brennender Sehnsucht
Nach jener Stätte
Der sonnigen Jugend,
Wo ich zuerst gesehn,
Schwingend um's Vaterhaus,
Dich liebliche Schwalbe,
Du Vogel der Heimath.
Heinrich
Seidel . 1842 - 1906
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