Gedichte.eu Impressum    

Gedichte, Lyrik, Poesie

Die vier Jahreszeiten
162 Bücher



Frank Wedekind
Die vier Jahreszeiten . 1. Auflage 1909



Sommer 1898

        Ich, der alte Ahasver,
        Habe große Eile,
        Zu verscheuchen wünscht' ich sehr
        Ewig lange Weile:
        Lenke wieder meine Bahn,
        Endlos mir beschieden,
        Nach dem alten Kanaan,
        Das ich lang gemieden.
Mir ist in der Ferne die Kunde geworden,
Es käme gezogen ein Herrscher von Norden,
Da setzt es vielleicht auch für mich einen Orden.

        Rückwärts schweift mein Auge matt,
        Reuevoll umdustert,
        Nach der alten Judenstadt,
        Drin ich einst geschustert,
        Derart, daß mich heute noch
        Gottes Welt verachtet,
        Weil ich nicht den Braten roch,
        Eh' das Lamm geschlachtetl
Wär' Jener gekommen, wie Dieser kommt heute,
Mit stolzem Gepränge und großem Geleite,
Ich wäre moralisch gegangen nicht Pleite!

        Jener ritt die Eselin,
        Dieser den Trakhener,
        Ehr' und Glück trägt Dieser hin
        Und sein Leben Jener.
        Durch der Rede reiches Wort
        Einzig sind die Beiden,
        Und ihr Ziehn von Ort zu Ort
        Nicht zu unterscheiden.
Was aber hilft tief mir im Busen die Reue!
Versagt' ich denn jemals dem Herrscher die Treue?!-
Am Ende ereilt mich mein Unglück aufs neue!

        Kam doch auch zu jener Zeit
        Unter Kriegerscharen
        In verbrämtem Purpurkleid
        Einer angefahren! - -
        Wenn der Andre nun auch jetzt
        Beim Erlöserwerke
        Sich vor meine Türe setzt,
        Ohne daß ich's merke?!
Von ihm stand kein Wort in der Zeitung geschrieben
Ich hätt' ihn ja sonst von der Bank nicht vertrieben!
Und darin ist alles beim alten geblieben. -

        Ja, wir Menschen stolpern blind
        Durch des Lebens Enge.
        Oft ist leer wie Schall und Wind
        Größtes Festgepränge.
        Irrt man ehrfurchtsvollen Blicks,
        Ehr' und Macht zu suchen,
        Kommt der Mächt'ge hinterrücks,
        Einen zu verfluchen! -
Es wechseln nicht nur an der Börse die Größen! -
Nichts bleibt uns, inmitten von Püffen und Stößen,
Als ununterbrochen das Haupt zu entblößen.


  Frank Wedekind . 1864 - 1918






Gedicht: Sommer 1898

Expressionisten
Dichter abc


Wedekind
Die vier Jahreszeiten

Intern
Fehler melden!

Internet
Literatur und Kultur
Autorenseiten
Internet





Partnerlinks: Internet


Gedichte.eu - copyright © 2008 - 2009, camo & pfeiffer

Sommer 1898, Frank Wedekind