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Karl Stamm
Der
Aufbruch des Herzens . 1. Auflage 1919
Das rote Tuch
Eine Reiterin reitet über den Asphalt,
den im Aufstand gestern heißes Volksblut rotgebrannt.
In Gedanken zersägt sie noch einmal das Netz der Blicke,
das von schon fernen Trottoirs zahllose Herren um sie ausgespannt.
Und reitet, reitet, liebkost ihren Zelter,
sieht nicht, daß ringsum graues Volk den Schritt verhält,
hört nicht, wie Männerfluchen dürr zu Boden fällt.
Und junge Frauen werden in Sekunden Jahre älter:
Arbeiterinnen, durch die Gefräßigkeiten der Fabriken längst entweibt,
der Not, dem Hunger, dem lebendigen Tode eingeleibt,
besinnen sich: O heiliges Recht: Zu sein!
Die Reiterin wirkt auf sie wie junger Wein:
Erst grenzenloser Durst. Ein kurzer Rausch. Jäh auferwacht
des Elends Katze, racht sie zurück in alte Nacht.
Sie reißen dir mit ihren Blicken Stück um Stück
vom Leib. Und spielen Ball und schleudern dich zurück.
Es starrt dein Auge fremd: Wo bin ich hier?
Erkenne dich! Es zittert selbst dein Tier!
Du rufst nach Hilfe. Niemand opfert sich.
Der Stein in einer Frauenhand entgeht dir nicht.
Du siehst, wie er sich kantiger in ihre Finger preßt.
Du fluchst dem Geist, der es geschehen läßt.
Dann trägt dein Pferd dich aus dem Wirbel fort.
Die ganze Straße schwillt und braust zum Wort
und heißen Schrei: O heiliges Recht: Zu sein! -
Segne die Hand, die ihn nicht warf, den Stein!
Karl
Stamm . 1890 - 1919
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