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Karl Stamm
Der
Aufbruch des Herzens . 1. Auflage 1919
Der Seiltänzer
Er steigt aufs Seil, steht hoch. Mit kaltem Schweigen
empfangen die Tribünen sein Verneigen.
Er biegt den Leib er tanzt erblühnde Birke,
er wiegt sich, daß er Glanz und Sonne wirke,
er prellt den Tod, er leibt dem Geist sich ein,
er nimmt die Schwere fort aus jedem Sein,
steilt Türme hoch, es wölbt sich die Altane,
er schwenkt den Himmel über sich als Fahne,
umfaltert Jugend und entaltert Greise,
wird leises Schweben, sanft erlöste Weise,
er schwingt in allen und erbebt in allen,
hält plötzlich inne: Tausend Menschen fallen!
Auf blankem Ruhm turnt er sich leicht nach oben,
im wilden Beifall scheint er aufgehoben,
steigt höher, reigt und schwebt, die schlanken Füße
verlor'n das Seil, die Hände wirbeln Grüße,
er schließt das Auge, wächst zum Vorzeitriesen,
das Volk springt auf von Teppich, Bank und Wiesen,
strahlt ihn empor in wiegeweiche Lüfte.
Geruch - ganz fern, als öffneten sich Grüfte -
Das Seil ist leer. Im Netze zucken Glieder,
aus dünnen Maschen springt der Tänzer nieder.
Doch aller Blicke hoch im Seile hangen,
noch ganz vom Rausch der Höhe eingefangen.
Ein Mädchenschrei will sich zum Schmerz erkühnen.
Zum Himmel donnern ringsum die Tribünen.
Karl
Stamm . 1890 - 1919
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